Frau an Bord (Das Kleeblatt)
sein. Sie musterte ihn und registrierte dabei die Ruhe, Geduld und das Verständnis, die seine Miene ausstrahlte. Sicher wäre er ihr aufgefallen. Ganz bestimmt sogar. Er war älter als sie, vielleicht dreißig, mittelgroß – und damit immer noch einen ganzen Kopf größer als sie. Seine Haare trug er militärisch kurz geschnitten.
Wie gebannt von seiner Freundlichkeit starrte sie den Fremden an , der die Musterung schweigend über sich ergehen ließ. Susanne fühlte seine rehbraunen Augen in einer derart ungewöhnlichen Art auf sich gerichtet, dass sie angesichts ihrer eigenen Schamlosigkeit leicht errötete. Sie konnte kein männliches Interesse in seinem Blick erkennen, kein Abschätzen, wie weit er gehen durfte, ohne eine blutige Nase zu riskieren, sondern verbindliche und ehrliche Aufrichtigkeit.
Wie war es möglich, dass ein Mann so betörend gut aussah? Seine Mundwinkel waren leicht nach oben gebogen, seine Augen leuchteten, aber es war doch nur ein Lächeln! Nichts weiter als ein sanftes, fast scheues Lächeln. Nie zuvor war es ihr passiert, dass das Lächeln eines Mannes ihren Verstand ausschaltete. Ihr Körper reagierte mit einer Heftigkeit auf seine Nähe, die ihr Angst machte. Einen Moment lang konnte sie keinen klaren Gedanken mehr fassen. Sie biss die Zähne aufeinander und kämpfte gegen die Flut sinnlicher Bilder an, die ihre Fantasie ihr vorgaukelte. Himmel, dieses Verlangen … musste ignoriert werden! Etwas anderes war undenkbar.
Ein Windstoß wehte ihr eine blonde Haarsträhne in die Stirn. Ohne nachzudenken, beugte sich der Koch vor und schob mit einer schüchternen Bewegung die Haare aus ihrem Gesicht, langsam und vorsichtig, um sie nicht zu erschrecken. Als seine Finger Susannes warme Haut berührten, wurde ihm klar, welche Dummheit er begangen hatte. Was eine völlig bedeutungslose Berührung hätte sein sollen, wurde mit einem Mal zu einer unbeabsichtigten Zärtlichkeit. Unhörbar seufzend gab er seiner Vernunft den Abschied. Er blickte in ihre Augen, die plötzlich sehr groß wirkten und verwirrt dreinschauten. In dieser Sekunde sah er den Rest seines Lebens in ihren Augen. Völlig überwältigt von dieser Erkenntnis ließ er die Hand sinken.
„Entschuldigen Sie mich. Muss ins Funkschapp“, knurrte sie gereizt und wusste, wie lahm sich ihre Erklärung in seinen Ohren anhören musste. Ohne sich noch einmal umzudrehen, hastete sie die Freitreppe zum Brückendeck empor.
Der Schiffskoch schaute wie gebannt der jungen Frau hinterher. Erst, als er hektisch nach Luft schnappte, merkte er, dass er die ganze Zeit über den Atem angehalten hatte. Die Luft um ihn herum vibrierte noch immer vor Spannung. Es schien, als würden feine Glöckchen klingen, Geräusche aus seiner Kindheit, die sich mit dem Duft von feuchter Erde und Gras mischten.
Er rieb sich ungehalten über die Stirn, hinter der sich ein leich ter Schmerz breitmachte. Nicht schon wieder! fluchte er leise. Das hatte er hinter sich. Ein für alle Mal!
Nichtsdestot rotz kostete es ihn einige Anstrengung, in die Wirklichkeit zurückzufinden. Das also war die Neue, von der er bereits gehört hatte. Glaubte er den kursierenden Gerüchten, denn Funkassistenten hielten sich für gewöhnlich nicht in den Katakomben der Schiffe auf, bewohnte sie eine der Kammern auf dem Assi-Gang. Wenngleich sich seine Behausung ebenfalls unter Deck befand, war er der Frau bislang nicht begegnet. Erst einmal – und selbst da bloß aus den Augenwinkeln – hatte er die Neuaufsteigerin von der Kombüse aus gesehen. Sie hatte mit der Stewardess in der Messe Kaffee getrunken, seinen Kaffee, und sich voller Begeisterung darüber geäußert. Was Simone darauf erwidert hatte, konnte er nicht verstehen, weil es im Lachen der Funkerin untergegangen war, ein perlendes Geräusch, das ihm sofort wie Champagner zu Kopf gestiegen war. Von jener Sekunde an hatte er dieses verzaubernde Lachen unbewusst immer wieder unter den Geräuschen auf diesem Schiff gesucht.
Zumindest verstand er jetzt die anzüglichen Bemerk ungen der anderen Männer. Diese Kleine war in der Tat …
Meine Güte , natürlich war sie zu schade für diesen kunterbunt zusammengewürfelten, wilden Haufen, der sich an Bord herumtrieb. Dieses süße Ding hatte vermutlich keine Ahnung, worauf sie sich eingelassen hatte, als sie hier aufstieg. Das wussten übrigens die wenigsten, bevor sie an Bord kamen. Aber alle wurden sie irgendwann – eher früher, als später – und meist unsanft in die
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