Frau an Bord (Das Kleeblatt)
Wahrscheinlich könnte sie hier an Bord keinen Schritt unbeobachtet machen. Selbst wenn sie noch zehn Zentimeter kleiner wäre, sie war nun einmal keine Frau, die man einfach übersah. Da war nicht allein ihr volles, blondes Haar, das weit über den Rücken fiel und geradezu zwangsläufig die Blicke der Männer anzog. Ebenfalls ihre zarte, fast mädchenhafte Figur und das hübsche Gesicht mit der kleinen Stupsnase und dem sinnlichen Mund fanden manche derart sexy und provokant, dass sie darüber Anstand und Sitte vergaßen. Natürlich war sie sich ihrer Ausstrahlung bewusst. Da an ihrem Aussehen nichts mehr zu ändern war, blieb ihr nichts anderes übrig, als sich darauf zu besinnen, womit sie während der zurückliegenden vier Jahre beschäftigt war – nicht bloß mit dem Studium der Schiffselektronik, sondern ebenfalls mit der eingehenden Betrachtung der Männerwelt. Seitdem wusste sie sich zu behaupten.
Das zumindest glaubte sie.
Denn an Bord dieses Schiffes sollte sie ganz schnell eines Besseren belehrt werden.
Das erste Abendessen in der von Offizieren und Mannschaft genutzten Messe wurde für sie zum Spießrutenlauf. Obwohl die Besatzung fast ausnahmslos erst während der vergangenen beiden Tage vom Heimaturlaub zurückgekehrt war, hatte sie das ungute Gefühl, von dutzenden Augenpaaren nach allen Regeln der Kunst ausgezogen zu werden.
Irgendwann werden sie sich daran gewöhnen, dass eine Neue an Bord ist, mühte sie sich einzureden und hielt während der folgenden halben Stunde ihren Blick starr auf den Teller geheftet, ganz so als müsste sie ihr Essen genau im Auge behalten, um es im richtigen Moment am Weglaufen zu hindern. Wenn sie spröde tat, würde das Interesse der Männer sicher bald erlahmen. Heiliger Bimbam, ich bin doch nicht die einzige Frau hier!
Unter halb geschlossenen Lidern beobachtete sie mit einem leichten Anflug von Neid die Stewardess, die wie ein verhexter Besen durch die Messe wirbelte. Eben noch hatte sie ihr gezeigt, an welcher Back ein Platz für sie frei war, und in der nächsten Sekunde kam sie schon wieder mit randvoll beladenen Tellern aus der Kombüse gefegt. Das Mädchen mochte etwas jünger als sie selber sein und gut einen Kopf größer, ihr Gesicht erinnerte an die pausbäckigen Putten des Michelangelo und ihre dralle Figur hätte genauso gut zu einer Bäuerin auf der grünen Alm gepasst.
Es faszinierte Susanne, wie die Stewardess völlig ungezwungen mal mit diesem Matrosen flaxte, mal mit jenem Ölfuß schäkerte und weder Ton noch Verhalten änderte, als sie an die Back mit den älteren Offizieren trat. Obwohl sie ohne Pause mit Tellern und Platten, Schüsseln und Kannen zwischen Messe, Kombüse und Pantry hin und her düste und sich nebenbei das Meckern einiger Unverbesserlicher anhörte, sah sie die junge Frau nicht ein einziges Mal mit miesepetrigem Gesicht.
Wie verloren kam sich dagegen Susanne an ihrem ersten Tag an Bord der „Fritz Stoltz“ vor. Da es während der Hafenliegezeit kaum Beschäftigung für den Funkoffizier gab, so hatte ihr Botho, der Vollmatrose, erklärt, kostete ihr Ausbilder Hans Nienberg seinen Hafenurlaub bis zur letzten Minute aus. Damit würde ihr bis zu seiner Rückkehr an Bord nichts anderes zu tun bleiben, als sich auf dem Schiff umzuschauen und abzuwarten. Erst für den späten Nachmittag des nächsten Tages war das Auslaufen der „Fritz Stoltz“ geplant.
Wie sie den Gesprächsfetzen in der Messe entnehmen konnte, waren die Verladearbeiten nahezu abgeschlossen. Vierzehntausend Tonnen Roggen sollte die „Fritz Stoltz“ in das zweihundertfünfzig Seemeilen entfernte Klaipėda bringen. Schon wieder Klaimi! Das Schimpfen und gotteslästerliche Fluchen der Männer, welches angesichts einer neuen Frau an Bord noch eine Spur krasser als üblich ausfiel, beeindruckte Susanne nicht im Geringsten. Und wenngleich sie alles andere als ein geduldiger Mensch war, zuckte sie lediglich gleichmütig mit den Schultern. Ihr kam es auf einen Tag wirklich nicht an.
Sie hatte bereits ihr Leben lang darauf gewartet.
2. Kapitel
Schweißgebadet schreckte sie auf. Es dauerte eine n tiefen Atemzug, bis ihr einfiel, wie sie hierher geraten war. Allerdings wollte es ihr selbst dann nicht sofort gelingen, sich zu beruhigen. Was für eine Nacht! Ihr Kopf brummte wie nach einer heftigen Ziehung. Sie stöhnte jämmerlich, während sich ihre Hand behutsam auf ihrem Gesicht vorantastete, um sich die pochenden Schläfen zu massieren. Welch wirres Zeug
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