Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
endgültig.
Wie Piet Oud den Abschied von seiner Geliebten erlebt hat, das lässt sich nur mutmaßen. Das einzige Foto aus dieser Periode, ausgegraben aus einer seiner Biografien, wurde während des Promotionsdiners gemacht, im Juli 1917. Er sitzt neben seiner Ehefrau, umringt von Freunden und Verwandten. Das Glas neben seinem Teller ist voll. Seine Miene ist gespannt und düster – auffallend bei einem so festlichen Anlass. Die Vermutung liegt nahe, dass auch während dieses Diners seine Gedanken immer noch um Annetje kreisten.
1919: Der Wendepunkt
Nach dem Intermezzo in Holwerd nahmen Annetjes Engagements drastisch ab. Es kam noch Ede, es folgte noch Sloten. Im August 1918 schickte die Wöchnerin von Sloten – anscheinend eine gute Bekannte im Hause Vlek – einen liebevollen Brief an Veras Adresse, adressiert an ›Tanneke‹, wie sie Annetje nannte.
Und wie geht es Dir, Tanneke? Ich habe Dich die ersten Tage doch sehr vermisst und hätte Dich am liebsten zurückgerufen. Wann kommst Du wieder? Noch einmal herzlichen Dank für die Becher. Wie geht es Vera? Hat sie sich wieder erholt? Waren die Jungs froh, dass Du wieder da warst und rackert ihr euch jetzt zusammen im Haushalt ab?
Annetje war in jenen Wochen also zu Hause bei Vera, die krank war.
Was konnte Vera gefehlt haben, fragte ich mich. Tante Tini zufolge war es erneut das Nierenleiden gewesen, an dem Vera auch schon zur Zeit um Robs Geburt gelitten hatte, 1914, und wieder bei der von Piet, anderthalb Jahre später. Auf den Aufnahmen nach Piets Geburt steht Vera freilich stolz und schlank mit dem neuen Baby im Arm da. Ihre Miene ist ausgeglichen und ruhig. Die Schlussfolgerung liegt denn auch nahe, dass die beiden Schwestern den zweiten Anfall desNierenleidens im Jahre 1915 nur vorgetäuscht hatten, um so die Vorkehrungen zu Piets Geburt besser verschleiern zu können. Dafür erwischte es Vera 1918 aber erneut.
Das Nikolausfest von 1918 scheint reichlich dokumentiert. Neben dem vorher erwähnten lustigen Album von Schwager Jacob gab es noch ein Gruppenfoto mit der Unterschrift
Nikolaus 1918
und einen Brief vom 5. Dezember.
Auf dem Foto sitzt Vera in einem Lehnstuhl neben einem Stapel noch nicht ausgepackter Geschenke, Jacob festlich an ihrer Seite. Die Geschwister Jan und Rob stehen etwas belämmert vor einem als Nikolaus verkleideten Nachbarn. Der kleine Piet sitzt auf dem Schoß seiner ›Tante‹ Ann, deren Gesichtsausdruck ziemlich unglücklich wirkt.
Der Nikolausbrief war wieder von der anhänglichen Mutter aus Sloten:
Liebstes Tanneke! Was war ich glücklich, endlich von Dir zu hören. Wie schade, dass ihr wieder so eine schlechte Zeit gehabt habt. Ich hoffe, es geht jetzt besser und Du kannst wieder arbeiten. Ich hoffe sehr, dass Du mal vorbeikommst, um zu sehen, wie unser Kindchen gewachsen ist. Es ist ein herrliches Püppchen. So gesund und rund und mollig und lacht den ganzen Tag …
Also hatte auch Annetje gekränkelt.
Die Frage drängt sich auf, wie die Stimmung im Hause Vlek gewesen sein mag, mit den zwei kranken Kapitänen auf
einem
Schiff. Wie hat wohl Vater Jacob zu seinem Kuckucksjungen gestanden? Und wie hat ihm der Dauerbesuch seiner Schwägerin gefallen? Es kann beinahe nicht anders sein: diese Situation muss zu Problemen geführt haben.
So brach das Jahr 1919 an. Mitte März versorgte Annetje noch einen Beppie in Gouda. Und sie bekam einen Brief nachgeschickt, vom Vater ihres ehemaligen Geliebten, deranfragte, ob sie seine Ehefrau pflegen könne, die »schwer überspannt« sei.
Aber bevor ich mich mit dieser Wendung in Annetjes Leben beschäftigen konnte, musste ich erst mal erkunden, wie es dem alten Oud und seiner Frau inzwischen ergangen war.
Anfang 1916 – als Annetje ihre Ausbildung als Wochenpflegerin abschloss (und den falschen Geburtsschein für ›Willem‹ ausfüllte) – zog H. C. Oud überraschend um, in den Middenweg in De Meer. Sein Wegzug wurde im
Purmerend’sche Courant
ausführlich gewürdigt, da H. C. Oud damit auch sämtliche Ämter und Ehrenämter ablegte. Ein Grund für den überraschenden Umzug wird aber nirgends genannt. Seine Enkelin Diny – die Tochter von H. C.s jüngstem Sohn Gerrit – meinte, das günstigere Steuerklima in Amsterdam könne den Ausschlag gegeben haben. Ich halte es aber auch für denkbar, dass der Alte einen Skandal um seinen Sohn Piet fürchtete.
De Meer war damals noch eine selbstständige Gemeinde, die Amsterdam erst 1920
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