Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
Middenweg. Es hatte stark den Anschein, als hätte Oud ihr Avancen gemacht und als hätte Annetje ihm womöglich nachgegeben.
Währenddessen absolvierte sie ihre Wochenpflege bei Frau Kleijmans in Arnheim, wie das Kärtchen mit ihrem Honorar beweist, das sie aufgehoben hatte:
Für Pflegeleistungen vom 26. Juni bis 27. Juli = 32 Tage à f 4.–, insg. f 138.– inklusive Waschgeld.
Ich konnte mir allmählich vorstellen, was in diesem Sommer 1919 geschehen war: In den Wochen ihres Pflegeeinsatzes in Arnheim pendelt Annetje zwischen der Pflegestelle am Bothaplein und Veras Wohnung auf der anderen Seite des Sonsbeek-Parks. Dort empfängt sie H. C. Ouds diverse Hilferufe, dass sie doch bitte nach Amsterdam zurückkehren möge. Dort will er sie irgendwann selber besuchen. Wie wird Annetje diesem gefürchteten, vielleicht ersehnten, auf jeden Fall entscheidenden Besuch entgegengeblickt haben?
Sie ist jetzt fast einunddreißig. Die Hoffnung auf eine eigene Familie scheint verflogen. Es ist auch zu bezweifeln, dass sie noch Kinder gebären kann, nach dem Gepfusche in den ersten Monaten ihrer Schwangerschaft.
H. C. Oud ist achtundfünfzig. Er ist verheiratet, wenn auch mit einer Nervenpatientin. Er ist auch der Vater ihres Geliebten.
Jetzt, da der Sohn für sie verloren ist, macht ihr der Vater den Hof. Sie erschauert, ist aber auch geschmeichelt. Wird sie je noch einmal so eine Gelegenheit in ihrem Leben bekommen – Sicherheit, Wohlstand, ein Luxusleben, ein hübsches Zuhause? Aber was ist mit Piet Oud, denkt Annetje dann angstvoll. Was wird der von dieser Entwicklung halten?
Sie überlegt, während der Mühsal und Kümmernis ihrer Arbeit. Sie bespricht sich mit Vera. Die Alternative liegt auf der Hand. Annetje wird notgedrungen weiter von einem Pflegeaufrag zum anderen ziehen und in der Zwischenzeit bei Vera zu Gast sein, solange es geht. Und solange sie dieses Leben aushalten kann.
Vera wird sicherlich die Aussicht auf einen sicheren Hafen für ihre Schwester für überlegenswert befunden haben, wenn sie sie nicht schon rundheraus begrüßt hatte. Annetjes zwiespältige Rolle in ihrer Familie dürfte unvermeidlich zu Problemen geführt haben – zwischen Vera und ihrem Mann, zwischen den Eltern und den Kindern, aber vielleicht auch zwischen den Schwestern untereinander.
Dazu kommt die finanzielle Lage. Die Fabrik macht eine schwierige Zeit durch. Die Erweiterung, die jetzt nötig wäre, erfordert Investitionen, die sich Jacob nicht leisten kann. Sollte der reiche alte Oud nicht auch hier Abhilfe schaffen können? In diesem Sinne beratschlagen die Schwestern, jetzt, da H. C. nach Arnheim kommen will, um Annetje mit nach Amsterdam zu nehmen, sobald das Kind der Familie Kleijmans sie nicht mehr braucht.
Am 26. Juni 1919 schreibt er Annetje noch einmal, ›wie bedauerlich doch Deine Abreise war – und wie Du in unserer Wohnung vermisst wirst‹. Der Brief schließt mit einem PS von Piet Oud.
Der Zusatz ist reichlich förmlich für einen früheren Nachbarn, und für einen Exgeliebten erst recht. Aber natürlich gilt noch immer, dass kein geschriebenes Wort ihre frühere Beziehung verraten darf.
Annetje liest zwischen den Zeilen.
Verehrte Schwester Beets, gerne füge ich meine herzlichen Grüße denen meines Vaters hinzu und danke Ihnen sehr für die Art und Weise, mit der Sie ihm in diesen trüben Tagen das Leben angenehmer gemacht haben. Ich bin zwar erst seit einer halben Stunde hier im Hause, doch hatte ich bereits alle Gelegenheit, festzustellen, wie sehr Sie hier vermisst werden. Ich bin daher so dreist, dem Drängen meines Vaters mein eigenes hinzuzufügen und Sie zu fragen, ob es nicht möglich ist, dass Sie Ihre jetzige Pflegeverpflichtung einer anderen Person übertragen und wieder hierherkommen. Es ist vielleicht sehr viel verlangt, doch gebe ich Ihnen die Versicherung, dass Sie hiermit nicht nur meinem Vater, sondern auch uns allen einen sehr großen Gefallen täten.
Das wiegt schwer für Annetje. Piet Oud selber drängt auf ihre Rückkehr.
Aber das letzte und größte Problem ist der kleine Junge, ihr Sohn. Wenn sie mit offenen Karten spielt, es darauf ankommen lässt – wie würde der alte Oud dann reagieren? Und wenn er es einmal weiß, wie können sie es dann Piet gegenüber noch weiter verheimlichen?
Andererseits: Länger zu schweigen lässt sich auch nicht mehr durchhalten. Es ist vielleicht auch nicht klug. Ein reicher Gönner könnte ja in mehrfacher
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