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Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)

Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)

Titel: Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dorinde van Oort
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eine Ausrede. Vielleicht war Annetje, anstatt nach Arnheim, schnurstracks nach Coevorden gereist, wo sich ihr Geliebter befand. Wegen einer Krise, einer Auseinandersetzung, einer Stunde der Wahrheit. Aber welcher Wahrheit?
    Ich fand keinen Hinweis, dass Annetje die für Ende Mai geplante Wochenpflege bei Frau J.   E.   Manssen Frijlinck auch tatsächlich geleistet hatte, im Gegenteil. Am 14.   Mai 1917 bewarb sie sich bei der Agentur für Private Krankenpflege in Arnheim. Die Leiterin holte Erkundigungen beim Wilhelmina-Hospital ein. Die Referenz war positiv. Von nun an ließ sich Annetje durch diese Arnheimer Agentur verschicken, nach Bussum, Hilversum, Ede   …
    Doch hatte sie sich, wie es aufgrund der Fotos aus Holwerd den Anschein hatte, im Mai 1918 plötzlich an der Nordküste von Friesland befunden; ein Lichtjahr von Arnheim entfernt. Eine Wochenpflege, die eigentlich kaum durch die Agentur hätte vermittelt werden können.
    Ich besah mir noch einmal die durchgerissene Karte, die Frau Doktor Knip ihr im November 1917 aus Friesland geschickt hatte und die sie so demonstrativ neben Fotos von der Wochenpflege in Holwerd geklebt hatte. Nicht nur der Text auf der Vorderseite, sondern auch der auf der Rückseite brach abrupt vor dem Riss ab:
     
    Wir finden es so herrlich, dass Beppie ein Brüderchen oder Schwesterchen bekommt, und hoffen natürlich auf einen Jungen. Es ist hier besser auszuhalten als in Zweelo, das werden Sie schon feststellen, wenn Sie kommen. Herzliche Grüße von uns 3 und sollten   …
     
    Doktor Knip war anscheinend im April 1917 zu seiner vollsten Zufriedenheit nach Holwerd umgezogen. Man könnte beinahe denken, dass auf dem abgerissenen Teil der Karte ein Name gestanden hatte. Vielleicht der Name desjenigen, der Annetje ein Jahr zuvor an Doktor Knip empfohlen hatte und unbedingt aus der Geschichte getilgt werden musste. Der Name Piet Oud. Und doch hatte sie diese Karte sorgfältig aufgehoben, vielleicht in der heimlichen Hoffnung, dass irgendjemand dem Namen doch noch irgendwann auf die Spur käme und ihrer Liebe doch noch eine Existenzberechtigung verleihen würde.
    Annetje hatte sich, vielleicht mit gutem Grund, Doktor Knip verpflichtet gefühlt und diese Wochenpflege anständigerweise nicht ablehnen können. Egal, wie weit sie dafür reisen musste und wie wenig sie dort inzwischen zu suchen gehabt hatte.
    In Holwerd half sie einem dickbäuchigen Bürschchen auf die Welt, das von Schwager Jacob folgendermaßen porträtiert wurde:
     
    Schwester Ann, die hört mich rufen:
    Annetje, ich muss mal pupen
    Igitt ist das und riechen tu ich’s auch
    Dazu sieht man es an meinem Bauch.
     
    Meine Exkursion nach Zweelo hatte jetzt doch einige Struktur in das Material aus dem Jahr 1917 gebracht. Ich nahm das Fotoalbum und die diversen Dokumente noch mal dazu und konnte das Kapitel mit einer Anzahl neuer Erkenntnisse abschließen:
     
    In Zweelo ist Annetje glücklich, hinterm Stuhl der alten Dame stehend, den Blick in die Ferne gerichtet.
    In Sleen ist sie ruhig und zufrieden, in ihrem Korbsessel, Tee trinkend mit der Frau des Bürgermeisters.
    Die Traurigkeit schlägt in Bussum zu, wo sie im Sommer 1917 den x-ten Neugeborenen mit sichtbarer Mühe auf dem Arm hält. In Ede sitzt sie mager und kümmerlich neben einer Wiege. In Holwerd, Mai 1918, hinter der strahlenden Frau Knip und ihrem lächelnden ersten Knirps. Es ist etwas schiefgegangen. Was das war, darüber gibt die Biografie von Piet Oud ein paar Hinweise.
    Im April legt Piet Oud sein juristisches Staatsexamen ab. Im selben Monat wird er als Kandidat für die Volksvertretung aufgestellt.
    Am 14.   Mai – dem Tag vor Annetjes Bewerbung bei der Arnheimer Agentur – hält er einen Vortrag in Den Helder.
    Am 17.   Mai wird er als Abgeordneter ins Parlament, die
Tweede Kamer
, gewählt.
    Mitte Juli – er ist mittlerweile nach Den Haag umgezogen – promoviert P.   J.   Oud zum Doktor der Rechte – während Annetje eine Wochenpflege in Bussum macht.
    Es sieht ganz danach aus, als ob Annetje im März 1917, zum Zeitpunkt ihrer ›plötzlichen Abreise‹, bereits geahnt hätte,dass ihre Liebe zum Scheitern verurteilt war. Dass Piet Ouds Karriere sich nicht mehr mit ihrem Verhältnis vereinbaren ließ. Dass sie bei seinem Höhenflug nie würde mithalten können – nicht als Geliebte, nicht als Frau, und schon gar nicht als Mutter seines Kindes.
    Nach dem Verzicht auf ihren Sohn musste sie jetzt auch auf den Mann verzichten – und zwar

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