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Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)

Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)

Titel: Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dorinde van Oort
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gebracht werden. Man fürchtete um ihr Leben.
    Der alte Oud hatte noch mal eine Bitte an Annetje gerichtet, und diesmal wagte sie nicht abzulehnen. So hat sie wohl im Krankenhaus als Privatschwester gearbeitet – möglicherweise intern, um rund um die Uhr erreichbar zu sein:
Außerdem pflegte ich sie im Bürgerkrankenhaus.
Damals konnte man offenbar noch seine eigene Krankenschwester anstellen. Während der Pflege ist sie bestimmt auch häufig im nahe gelegenen Middenweg gewesen. Jedenfalls oft genug, um sich in kürzester Zeit unersetzlich zu machen.
    Sie wollte trotzdem noch weg. Eine Pflegeanfrage von einer Frau Kleijmans aus Arnheim, datiert vom 29.   Mai 1919, bewahrte sie als ›Beweis‹ auf. Der Umschlag trug Annetjes Kommentar:
Das Datum erzählt die Wahrheit. Eine Pflege, die ich annahm, um aus Amsterdam wegzukommen   …
    Am 21.   Juni war sie tatsächlich bei Vera in Arnheim. Sie wird dort ihre neue Patientin kennengelernt und die Einzelheiten der Wochenpflege verabredet haben. Ihr Kommentar zu einem Hilferuf von Oud, vom 26.   Juni:
Dies war ein Brief, als ich fortgegangen war, aus Furcht vor meinen eigenen Gefühlen, die ich selber ablehnte und vor denen ich Angst hatte   …
     
    Diese ›eigenen Gefühle‹ müssen sehr komplex gewesen sein. Sie werden dem Vater gegolten haben, aber auch dem Sohn. Womöglich hatte sie Angst vor zu großer Vertraulichkeit, Angst, dass die Wahrheit ans Licht kommen könnte. Die materielle Geborgenheit aber, die der alte Oud ihr bieten konnte, wird in ihrer Lage sicher eine Versuchung dargestellt haben.
    Für den alten Oud dürften die Pflege und die Bequemlichkeit, die Annetje ihrerseits ihm bieten konnte, schwer gewogen haben. Doch sein wiederholtes Drängen hatte möglicherweise noch einen anderen Grund. Vielleicht hatten während der Pflegezeit vertrauliche Gespräche stattgefunden. Und erhatte den Braten gerochen, hatte aus Annetjes Gemütszustand, ihren Äußerungen, vielleicht aus ihrer Niedergeschlagenheit geschlossen, dass die Liebe zu seinem Sohn noch nicht gänzlich erloschen war. Und vielleicht hat er gedacht, dass er sie besser im Auge behalten sollte. Als Wochenpflegerin kam sie ja in den besten Kreisen herum. Ein falsches Wort von ihr konnte auch jetzt noch viel Schaden anrichten, gerade jetzt, wo sich Piets Karriere optimal in die erwünschte Richtung entwickelte.
    Bei all ihrer Zurückhaltung gegenüber seinen Annäherungsversuchen war Annetje doch ambivalent in ihren Signalen dem alten Oud gegenüber. Den Sohn Gerrit hatte sie inzwischen völlig in der Hand. Der liebäugelte zu der Zeit gerade mit einem Motorrad und hatte in ihr eine Fürsprecherin gefunden, die sich für ihn, anscheinend mit Erfolg, bei seinem Vater verwandte.
    Am 3.   Juli 1919 schrieb er ihr aus De Meer:
     
    Liebe Ann, bereits einige Male durfte ich aus Deinen Briefen an Papa Deine Grüße empfangen und habe zu meiner Schande bis jetzt noch nichts von mir hören lassen. Ich denke, dass Pa durch Deine Vermittlung schon ein bisschen anders denkt bezüglich eines Motorrads! Ich hoffe natürlich, Dich in erster Linie wegen Mutter, aber auch wegen uns, bald wieder in unserer Mitte zu sehen. Mit Blick auf Dein Kommen werden die Pralinen schon eingelagert und der Kaffee aufgebrüht   … Es wird für Papa ein Vergnügen sein, nach Arnheim zu kommen, doch dann immer mit der Erwartung, dass er Dich mit nach Hause nehmen kann. Gerrit.
     
    Es musste zwischen der ›lieben Ann‹ und seinem Vater auch schon etwas vorgefallen sein. Denn der alte Oud fügte selber noch hinzu:
     
    An meine liebe Ann noch einen Nachtgruß – als Fortsetzung des Briefes von Gerrit. Schade, dass ich das Licht am Eingang nicht kurz mal für Dich hochdrehen kann, das würde mir
so
gut tun. Heute Abend ist mir wieder wohler zumute – dank Deiner frohen Botschaft. Der neue Erdenbürger geht mit Deiner Hilfe und Pflege gewiss einer schönen Zukunft entgegen. Alle, die unter Deine Leitung geraten, fühlen den wohltätigen Einfluss Deiner schönen und klugen Lebensweisheit. Nun, liebe Ann, schlafe gut und träume mal vom Middenweg und den Bewohnern von Nr.   36.   Ob unsere Gedanken bei Dir sind? Darauf ist keine Antwort nötig. Mit allem Guten und vielen herzlichen Grüßen. Dein H.   C.   Oud
     
    Das Licht für Dich hochdrehen.
War das ein intimer Augenblick gewesen im Bürgerkrankenhaus, wo die schwerverletzte Frau Oud damals lag? Wahrscheinlicher scheint mir eine Annäherung zu Hause bei Oud, im

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