Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
Doch wenn sie sich vorbeugt, kann sie das ganze Schiff unter sich überblicken.
Mit halbem Ohr hört sie der Frau des Neffen von Frau Hadders zu, die neben ihr sitzt und zu allen bekannten Gesichtern, die hereinkommen, ihre Kommentare abgibt.
Die alte Frau Lubbers, die es so schlimm an den Beinen hat, sitzt vorne auf ihrem Ehrenplatz; Annetje hat sie selber dort hingebracht. Jetzt, da Doktor Knip es wieder etwas ruhiger hat und es gerade keine Babys in der Gegend zu pflegen gibt, pflegt sie die alte Dame, um ihr durch diese kalten Wochen zu helfen.
Da ist Doktor Knip selber, mit seiner Frau und seiner Tochter. Annetje hat ein paar Monate in seiner Praxis mitgearbeitet. Er erwägt, seine Kündigung einzureichen, es gefällt ihm nur mäßig in Zweelo. Doch braucht Annetje vorläufig keine Angst zu haben, dass sie plötzlich ohne Arbeit dasteht. Da ist zum Beispiel Doktor van Reemst aus Sleen mit seiner hochschwangeren Frau. Hat sich da jemand mit dem Datum derNiederkunft geirrt, fragt sich Annetje mit Kennerblick. Das kann nicht mehr lange dauern. Sie würde wetten, dass das Kind schon im Januar kommt. Und da ist der Bürgermeister von Sleen. Seine Frau, in Pelzmantel und Muff, ist im vierten Monat. Das vornehme Haus, das sie bauen ließen, ist jetzt zum Glück beinahe fertig. Frau Manssen soll im Mai niederkommen.
Die Kinder bestaunen den Stall mit Tieren und Hirten und dem hölzernen Jesuskind, der vor dem Altar aufgestellt ist. Die Orgel spielt das traditionelle Weihnachtslied
O kerstnacht schooner dan de dagen
(Weihnachtsnacht, schöner als die Tage).
Wo bleiben sie? Es wird doch nichts dazwischengekommen sein? Jetzt, da die Stunde naht, wird Annetje bang ums Herz. Ob das überhaupt so eine gute Idee war? Angenommen, jemand erkennt ihn, vom Gasthof, wo sie jetzt so oft gewesen sind, wo er gelegentlich auch genächtigt hat und wo sie ihn, wenn alles schlief, heimlich aufgesucht hat. Oder von der Station in Oosterhesselen, wo sie so oft auf ihn gewartet hat, um einen Spaziergang nach Aalden mit ihm zu machen oder im
Hoes van het Hol-An
einen Speckpfannkuchen zu essen …
Da sind sie! Annetje blickt senkrecht auf sie hinunter. Sie zögern, wo sie sich hinsetzen sollen. Er deutet zu einer der vordersten Bänke, wo noch zwei Plätze frei sind. Annetje sperrt die Augen auf. Sie tränen. Sie blinzelt, um sehen zu können. Der Vater, die Mutter, das Kind. Die Frau ist kleiner als sie, magerer. Sie hat ein freundliches und nicht unhübsches Gesicht. Annetje erinnert sich vage an sie. Sie war auf der Höheren Bürgerschule in Amsterdam, genau wie er. Zu hoch. Zu hoch für sie.
Er lässt seiner Frau den Vortritt, sie setzen sich neben die Bauersfrauen mit ihren Mützen und Trachtenspiegeln. Er dreht sich um, hievt das vierjährige Bürschchen auf seinen Schoß, das dünn und blond ist, wie seine Mutter.
Der Mann und die Frau beugen sich zueinander. Sie fragt ihn etwas – sagt ihm etwas ins Ohr. Sie sehen sich an. Er nickt. Er lächelt. Lächelt. Dann erst, sieht sie, blickt er sich um. Unauffällig lässt er den Blick über die versammelte Menge schweifen. Annetje lehnt sich zurück. Sie hat ihre Gesichtszüge nicht unter Kontrolle. Sie spürt, wie ihr das Herz in der Brust klopft.
Er wendet sich zum Kind. Sie atmet auf. Er hat sie nicht gesehen. Jetzt fragt sie sich, warum sie sich diese Qual angetan hat, was sie sich in Gottes Namen von dieser Konfrontation erhofft hat. Sicherheit, ja. Einen Durchbruch.
Sie hat sich selbst überschätzt. Der Anblick ist unerträglich. Diese Menschen da gehören zusammen. Nach dem Ende wird er ohne Gruß fortgehen, so wie sie es abgesprochen haben. Sie steht draußen. Nicht nur hier draußen. Sie hat sich überall ausgegrenzt. Sie steht auch außerhalb von Veras Familie.
Der kleine Piet, der im letzten Monat ein Jahr alt wurde, ist beim ersten Weihnachtsfest seines Lebens nicht bei seiner richtigen Mutter und sie nicht bei ihm.
Hätte sie nicht doch lieber zu Vera gehen sollen? Aber das wäre vielleicht noch schwieriger geworden. Welchen Anspruch kann sie auf den Jungen erheben? Eine Tante hat keine Rechte, das hat sie im Sommer in Bergen mehr als deutlich gespürt. Sie musste ihn abtreten, basta.
Sie sieht nicht, wer noch in die Kirche hereingeschlurft kommt, hört nicht, was die Frau des Neffen der alten Dame neben ihr sagt. Sie nickt, verzieht den Mund zu einem Lächeln. Ihr Blick bleibt an den drei Menschen haften, die da unten sitzen. Sie sieht es jetzt mit eigenen
Weitere Kostenlose Bücher