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Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)

Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)

Titel: Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dorinde van Oort
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eingemeindet wurde. Von der Stadt aus musste man über eine schmale Zug- oder Klappbrücke gehen, um von der Linnaeusstraat in den neuen Stadtteil zu gelangen. Links war dann das Gericht, rechts das Zollhaus, wo Fahrzeuge bezahlen mussten, um nach De Meer hineinfahren zu dürfen. Der Middenweg war noch eine breite Allee mit jungen Bäumen und Vorgärten vor den Häusern. Die dampfbetriebene Tram, im Volksmund ›Gooise moordenaar‹ genannt, hielt direkt vor Ouds neuem Haus. Sie zog viele Blicke auf sich, genau wie die ersten Automobile.
    H.   C.   Oud lebte sich in seiner neuen Umgebung schnell ein. Er betrieb sein Wertpapier- und Maklerbüro von Zuhause aus, besuchte die Börse, knüpfte neue Kontakte, trank sein Gläschen in seinem Stammlokal oder auf einer der Terrassen. Es gefiel ihm bestens in De Meer, Diny zufolge. Doch bei seiner Frau war das anders.
    Der plötzliche Entschluss ihres Ehemanns, von Purmerend wegzuziehen, traf sie völlig unvorbereitet. Mit zweiundfünfzig war sie mit einem Schlag von ihrer vertrauten Umgebung abgeschnitten, von ihren Freundinnen, dem Laden in der Peperstraat, wo alle vorbeikamen. Sie fühlte sich entwurzelt. Ihr fehlte die Flexibilität ihres Mannes, die Leichtigkeit, mit der er, wo er auch war, neue Kontakte zu knüpfen vermochte. Während er fröhlich ausging, saß sie allein zu Hause, kannte niemanden in der Gegend und fand keinen Anschluss. Die Ausflüge, die H.   C.   Oud organisierte, zu den Gartenwirtschaften am Ringvaart oder zum Café Oost-Indië, wo es sogar Theaterdarbietungen gab, vermochten ihren wachsenden Trübsinn nicht aufzuhellen.
    Die Depression, in welche Neeltje versank, schrieb Diny dann auch, ohne zu zögern, diesem unglücklichen Umzug zu. »Meine Oma war überspannt. So nannte man das damals, wenn jemand unglücklich war.«
    Dazu kamen noch die gesellschaftliche Unruhe und die ständige Kriegsdrohung. Ihren Sohn Piet sah sie selten. Als dieser in Amsterdam war, war er mit seinem Abschlussexamen beschäftigt, danach mit der Promotion. Er musste jedes Mal zurück nach Overijssel, um Frau und Kind zu sehen, hielt Vorträge hier und dort im Land und hatte gute Chancen, bei der anstehenden Parlamentswahl gewählt zu werden. Der zweite Sohn hatte als angehender Architekt Häuser und andere Gebäude in Arbeit und reiste oft ins Ausland. Auch sein Stern war im Aufsteigen begriffen. Auch er besuchte seine Mutter nur selten. Nur der Jüngste, Gerrit   – Dinys Vater   –, wohnte noch zu Hause.
    Auf dem Foto von Piets Promotionsdiner im Juli 1917 sitzt Neeltje Oud noch recht munter dabei: eine kleine, graue Dame mit einem lieben Lächeln. Ihr Ehemann, in Weste und Schnauzbart, steht galant hinter ihrem Stuhl. Und doch war Neeltje Oud im Jahr 1918 wegen ›Nervenspannung‹ in einemSanatorium in Bloemendaal aufgenommen worden. Sie erholte sich. Und kam zurück. Doch Anfang 1919 sah es wieder sehr schlecht aus.
    Die junge Krankenschwester Annetje mit der fatalen Beziehung zu seinem Sohn musste der alte Oud in den vergangenen vier Jahren aus den Augen verloren haben. Er wird nicht gewusst haben, ob der Bruch mit Piet wirklich endgültig war. Trotzdem dürfte er neugierig gewesen sein, was aus ihr geworden sein mochte. Jetzt fiel sie ihm wieder ein, als ideale Pflegerin für seine Frau.
    Aber Annetje lehnte ab, und Oud schrieb seine bekannte Antwort: »Ich gedenke daher weiterhin Ihrer, aber womöglich sind Sie für längere Zeit in Dienst und es wird keine Gelegenheit geben.«
     
    DIES WAR DER ANFANG VON ALLEM
, lautet Annetjes Kommentar auf dem Umschlag, und sie fährt fort:
Ich glaube, ich lehnte aus einer Art Vorahnung ab. Als Frau Oud freilich versuchte, sich das Leben zu nehmen, und ich danach gerufen wurde, dachte ich, dass es bei dem körperlichen Wrack, das sie war, nur für ein paar wenige Tage wäre, außerdem pflegte ich sie im Bürgerkrankenhaus.
     
    Eine Vorahnung. Aber was für eine Vorahnung? Es scheint plausibel, dass auch Annetjes schlechtes Gewissen eine gewisse Rolle gespielt hat. Sie hatte Angst, dem alten Oud unter die Augen zu treten.
    Diny konnte auf den Selbstmordversuch ihrer Oma übrigens noch einiges Licht werfen. Ihr Vater Gerrit, damals dreiundzwanzig, hatte an jenem Nachmittag bei der Heimkehr von der Arbeit einen Krankenwagen vor der Haustür vorgefunden. Wie es schien, war seine Mutter auf der Rückseite des Hauses vom zweiten Stock aus dem Fenster sprungen und musste, schwerverletzt, ins nahe gelegene Bürgerkrankenhaus

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