Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
Augen, was sie nicht hatte glauben können und wollen: Er liebt seine Frau, trotz seiner Liebe für sie, Annetje.
Sie holt die ledergebundene Bibel aus ihrer Tasche, die sie sich neuerdings angeschafft hat. Sie ist sonntags immer mitden Familien mitgegangen, obwohl sie nicht kirchlich erzogen wurde. Pfarrer Winsemius ist ein feiner Mensch und ein guter Prediger. Mit ihm hat sie einmal über ihre Situation gesprochen. Als sie sagte, die Strafe für die Sünde könne vielleicht sehr schwer ausfallen, hat er gelacht: Aber liebe Schwester! Strafe! Wenn es eine Strafe gäbe, liefe jetzt kein Mensch mehr auf zwei Beinen herum. Sie schlägt die Bibel aufs Geratewohl auf und hofft auf ein helfendes Wort. Sie blinzelt, um lesen zu können.
Prediger 5,3: Wenn du Gott ein Gelübde tust, so verzieh nicht, es zu halten; denn er hat kein Gefallen an den Narren. Was du gelobst, das halte.
5,4: Es ist besser, du gelobest nichts, denn dass du nicht hältst, was du gelobest.
5,5: Lass deinem Mund nicht zu, dass er dein Fleisch verführe; und sprich vor dem Engel nicht: Es war ein Versehen. Gott möchte erzürnen über deine Stimme und verderben alle Werke deiner Hände.
Die Weihnachtsgeschichte von Pfarrer Winsemius rauscht an Annetje vorbei. Sie hat ihren eigenen Text, über den sie nachdenken muss. Ouds Geld hat sie angenommen, aber sie ist ihrem Versprechen ihm gegenüber nicht nachgekommen. Das Kind hat sie nicht wegmachen lassen. Den Mann sieht sie immer noch. Sie ist dabei, in seiner Familie Risse zu erzeugen. Nur ihr drittes Versprechen hat sie gehalten: Sie hat geschwiegen, geschwiegen, geschwiegen. Der Engelmacher habe sein Werk getan, hat sie ihrem Geliebten erzählt.
Der letzte Sommer ist der glücklichste ihres Lebens gewesen. Die Wochenpflege in Den Haag war ein strategischer Meisterzug; er musste regelmäßig im Ministerium sein. Dann die Verbindung mit seinem Kollegen Niklaas Lubbers, der,wie es schien, aus dieser Gegend hier kommt. Er, Piet, hat es selber für sie geregelt. Er wollte es auch.
Aber dieser Weihnachtsabend ist ein Wendepunkt. Sie fasst einen Entschluss. So kann es nicht weitergehen.
Als sie Piet wiedersieht nach den Festtagen, sagt sie ihm, dass sie so nicht weitermachen kann. Er begreift sie nicht. Es hat sich etwas verändert, sagt sie. Gewissensbisse. Aber warum jetzt auf einmal? Seine Familie war doch seine Verantwortung? Ihr eigener Verlust – er weiß nicht, worauf sie hinauswill. Sie kann es ihm nicht erklären, nicht ohne das Kind zu erwähnen, von dem er nichts weiß. Ganz kurz erwägt sie, es ihm trotz allem doch noch zu sagen. Und überlegt es sich anders. Es würde alles verderben. Er würde böse werden, wütend. Schließlich hat sie ihn getäuscht. Sie kennt ihn gut genug: Er würde es ihr nie verzeihen.
Sie beißt sich auf die Lippen und schweigt.
Er streichelt ihre Schultern, ihr tränenbenetztes Gesicht. Er nimmt sie in den Arm. Seine Stimme ist herzzerreißend leise. Sie lässt sich beruhigen. Sie lieben sich wie zuvor. Sie erholt sich von ihrer Gewissensnot. Teilweise gelingt es ihr, das Bild von der glücklichen kleinen Familie zu verdrängen, auf ihren Kutschenfahrten mit der alten Rheumapatientin, bei den Teestunden mit der schwangeren Doktorsgattin aus Sleen.
Sie treffen sich weiterhin. Nicht mehr in der Herberge von Zweelo. Nach dem gemeinsamen Weihnachtsgottesdienst ist die Gefahr zu groß, dass er von irgendwelchen Dorfbewohnern erkannt wird. Doch das Hotel van Wely, neben dem Bahnhof von Coevorden, ist neutrales Gebiet. Sie können sich unabhängig voneinander eintragen, unabhängig voneinander kommen und gehen, sich in einem der luxuriösen Zimmer lieben.
So muss es gewesen sein.
Dann, Mitte März, war etwas schiefgelaufen – so viel war dem Brief von Frau Manssen Frijlinck zu entnehmen, der von Annetjes ›plötzlicher Abreise‹ spricht. Ein PS wirft sogar etwas Licht auf den möglichen Grund:
Herzlich hoffe ich, dass das Kindchen, das Sie pflegen werden, von dem Gegenstand in seiner Luftröhre befreit wurde. Wie besorgniserregend für Ihre Schwester und schrecklich beklemmend für den kleinen Patienten!
Wie besorgniserregend
für Ihre Schwester.
Annetje, plötzlich nach Arnheim abgereist, um ihren kleinen Piet vor dem Erstickungstod zu retten – der die ganze Reise von Zweelo nach Arnheim irgendwie hatte ausharren müssen; sollte in Arnheim wirklich kein Arzt aufzutreiben gewesen sein? Eine unwahrscheinliche Geschichte. Sie klang eher wie
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