Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
meinte. Er war von Lous Oud.
Onkel Henk hatte währenddessen immer weitergeredet, er rühmte Oma Annetjes Tüchtigkeit und Durchsetzungsvermögen und erinnerte daran, wie sie nach ihrem Abschluss in Allgemeiner Krankenpflege im damals renommiertesten Krankenhaus des Landes, dem Wilhelmina-Hospital, ihreAusbildung zur Wochenpflegerin gemacht hatte, in den Jahren des Ersten Weltkriegs.
Bei mir rief das Bild von Oma Annetje als Krankenschwester nur Assoziationen an unsere eigenen Jahre in Vosseveld wach. Oma Annetjes Teewagen (den wir zum Puppenbett umfunktioniert hatten), beladen mit Thermometern, Spucknäpfen, Jod, Pflastern, Gazestücken und Dosen mit Pfefferminzdrops und Wybertpastillen, mit deren Hilfe meine Schwester Lieske und ich unsere Puppen im Nu von den grauenhaftesten Krankheiten heilten. Ich dachte an die Schwesternschürzen, die sie auf ihrer alten Nähmaschine für Lieske und mich genäht hatte – exakte Nachbildungen ihrer eigenen Schürzen, die wir von den Krankenhausfotos in ihrem Album kannten. Und ich dachte auch an ihr schwarzes Notizbuch:
Lehrgang 1914
, das ihr immer als Ratgeber gedient hatte und aus dem sie auf Wunsch markante Passagen zitierte:
…
kommt es zu einem Gallengangverschluss, dann häuft sich Galle in der Leber auf und gelangt so schließlich ins Blut. Stuhl sieht dann weiß aus, ist träge und übelriechend, Urin ist sehr gelb
...
...
Lauge am häufigsten. Salzsäure, durch schludrige Lagerung. Verleiht der Haut pergamentartige Farbe. Arsen: wird im Volk gebraucht für Mäuse und Ratten – schmerzhaft (ungefähr 8 Tage) – Kokain wird viel als Genussmittel verwendet – Sublimat (Quecksilberchlorid) erzeugt Doppelbilder. In schweren Fällen auch tödlich …
Dann der Arzneikasten im Badezimmer, oben drin die Glastöpfchen: Arsen, Borwasser, Schwefel, die unter keinen Umständen anzufassen wir hoch und heilig versprechen mussten. Inzwischen hatte Onkel Henk Oma Annetjes Jahre als selbstständige Wochenpflegerin abgehandelt und war jetzt bei dem Zeitpunkt angelangt, als die Familie Oud in ihr Leben trat.
Die ewigen Ouds. Allein schon bei der Erwähnung des berühmten Namens hatten Oma Annetjes Augen verschwommenzu glänzen begonnen. Interviews mit den prominenten Männern wurden aus Zeitungen ausgeschnitten. In den letzten Jahrzehnten hatte das Porträt des alten Oud sogar in trautem Einvernehmen neben dem ihres Mannes auf dem Nachttisch gestanden. Die Ouds gehörten zu Oma Annetje so wie ihre Passionsblumen im gekachelten Blumenbehälter von Vosseveld. Der Kontakt zur Familie war freilich im Laufe der Jahre eingeschlafen und lief nur noch über Lous Oud, die Witwe von Ko Oud, dem Architekten. Lou hatte bis zuletzt Geburtstags- und Hochzeitskarten mit ihren wöchentlichen Monologen mitgeschickt, die sie dann schloss mit: »Für denjenigen, der das vorliest, Mary, Tini? Einfach was Nettes, um sie zu beschäftigen. Grüße, Lous.«
Wo war sie eigentlich heute? Ich sah mich um. Tatsächlich. Die pergamentene Dame im Pelz in der hintersten Reihe – das musste sie sein.
Wie die Verbindung mit der berühmten Familie zustande gekommen war, hatte ich mich nie gefragt. Ich versuchte, mich wieder auf Onkel Henks Bericht zu konzentrieren.
»Es war in ihrer Eigenschaft als Krankenschwester, dass Ann im Jahre 1919 ihrem viel älteren Mitbürger H. C. Oud – dem Vater des Politikers und des Architekten – bei der Pflege seiner Gattin zur Seite stand. Frau Oud war nervenkrank, und als sie in eine Heilanstalt aufgenommen werden musste, fragte der alte Herr Oud, ob Ann bei ihm bleiben wolle. Obwohl es nie zu einer gesetzlichen Ehe kam, ist Ann tatsächlich bei ihm geblieben, bis zu seinem Tod, am 1. September 1939. Ich erinnere mich noch so gut an das Datum, weil es der Tag war, an dem der Zweite Weltkrieg begann.«
Jetzt kamen wir allmählich auf vertrautes Gebiet. Mein Vater, Lepel Mansborg, hatte uns oft erzählt, wie Pij, seine Mutter, mit ihrem Liebhaber durchgebrannt war; wie sein Vater und er damals unversorgt und verwahrlost zurückgeblieben waren, bis Oma Annetje als rettender Engel vomHimmel gefallen war und sich um die beiden Männer gekümmert hatte. Erst nach jahrelangem Zögern war sie auf Großvaters Heiratswunsch eingegangen.
Mit dieser Eheschließung war meine eigene Geschichte in Gang gesetzt worden. Ich, Emma Mansborg, kann ohne Übertreibung behaupten, dass es mich ohne Oma Annetje nicht gäbe. Sie war es ja, die ihre Lieblingsnichte Mary,
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