Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
Man sieht einen Großvater, der seine Augen nicht von Annetje lassen kann.
Sicher das glücklichste Jahr meiner Ehe
, steht unter einem der Bilder.
Wenn dies das glücklichste Jahr gewesen war, dann blieben wenig Illusionen für die Jahre übrig, die noch kamen. Denn Annetje sah alles andere als glücklich aus. Man sieht einen schief gezogenen Mund und flüchtige Augen. Was dieses spitze, bleiche Gesicht auch ausstrahlen mochte – Glück war es nicht. Mir fiel nur ein Wort dazu ein: Verlegenheit.
Wenn ich weitermachen wollte mit ihrer Lebensgeschichte, musste ich die ersten Jahre ihrer Ehe einmal genauer betrachten. Aber wie? Lepel war ein weiteres Mal unansprechbar geblieben: Er habe Kopfschmerzen und leide an Schlaflosigkeit, sagte er; je weniger Besuch desto besser.
Aber es gab noch die Briefe. Meine Eltern hatten sich in den ersten Kriegsjahren beinahe täglich geschrieben, bis zu ihrer Heirat im Jahr 1943, und meine Mutter hatte mich auf dem Sterbebett noch gebeten, die Schuhschachtel aus dem Schrank zu holen, in der die Briefe in völligem Durcheinander herumlagen.
Ich sehe es noch vor mir, wie meine Mutter die Schachtel auf ihrem Bett umkippte und ohnmächtig all die Briefe durch ihre Hände gleiten ließ, zu müde, um sie zu lesen, ihr Gesicht kreideweiß, das Haar aufgelöst auf dem Kissen. Lepels Briefe waren dicke Päckchen, unlesbar geschrieben in seiner engen, kleinen Handschrift – aber die wollte Mary auch gar nichtsehen. Sie wollte ihre eigenen Briefe lesen, Blätter, auf denen ihr Name aufgedruckt war, in einer breiten Mädchenhandschrift. Da lag auch ein Tagebuch dazwischen, das sie mir damals mitgab; Kalender aus den ersten Kriegsjahren, die Tage mit grimmigem Schwung durchgekreuzt, mit Anmerkungen wie
Cold cold cold, How am I longing
und
Noch 25 Tage
, und ganze Wälder von Ausrufezeichen, wenn Lepel dann kam.
Ich habe Mary damals ein paar Briefe vorgelesen und die Schachtel dann mit nach Hause genommen, um alles für sie zu sortieren.
Aber sie starb, bevor es zu weiterem Vorlesen kam.
Luftschlösser
Der Briefwechsel zwischen meinen Eltern begann im August 1940, nach einem langen Besuch Marys in Zandvoort, als die Verbindung mit ihrem neuen, angeheirateten Cousin offiziell wurde:
Arnheim, 14. August 1940
Ich wollte euch zuallererst noch einmal danken für die herrlichen Wochen in Zandvoort. Es ist jetzt so seltsam ohne euch; wir waren so lange zusammen. Und was vermisse ich die Musik!! Montagmorgen habe ich meine Freundin Lot vom Büro abgeholt und bin mit zu ihr nach Hause gegangen. Die Rheinbrücke ist zum Glück nicht mehr so hässlich anzusehen; der Bogen wurde völlig entfernt. Was ist es doch schlimm da im Süden. Heute habe ich nur 2 Flugzeuge gesehen. Nachts hört man überhaupt nichts.
Jetzt wisst ihr, wie es in unserm gemütlichen langweiligen Städtchen zugeht. Liebe Leute, ich komme zum Schluss. Lepel, grüß mir Tante Ann, Onkel Christiaan, tschüs, du alter Hering!
Am Anfang gab sich die kaum achtzehnjährige Mary offenbar Mühe, mit den dicken ›philosophischen Episteln‹ des zwei Jahre älteren Lepel noch mitzuhalten.
Arnheim, 27. August 1940
Danke für Deinen schönen langen Brief, ich war wirklich glücklich darüber. Es ist so ein herrliches Gefühl, zu wissen, dass es jemanden gibt, der einen liebt und nach einem verlangt!
Ich glaube schon, dass ich Deine ›schwere philosophische Epistel‹ ein wenig begreife. Aber weißt Du, Du kannst alles, was Du fühlst, so gut in Worte fassen. Ich erkenne eine ganze Menge meiner eigenen Gedanken in Deinem Brief; ich glaube auch, dass, wenn man einander vertrauen und begreifen kann, dies die Grundlage für eine gute Gemeinschaft ist. Du bist so eine große Stütze für mich; seltsam, wie sich das ganze Leben verändert, wenn man ›den Wahren‹ gefunden hat. Die ganze Welt betrachtet man plitz-platz mit anderen Augen. Ich bin so oft verliebt gewesen, aber das hier ist etwas so anderes. Weißt Du, ich fühlte mich immer so ziellos und stand mir selber im Weg. Und dieses Gefühl versuchte ich zu verdrängen, indem ich billige Romane las und viel ins Kino ging und ausgeführt werden wollte; zu Hause hatte ich nie Ruhe. Du warst der Erste, der mir half, als Du mich die Sätze von Maeterlinck lesen ließest. Dass das Glück in uns selbst liegt … Da fing ich an, über Dinge nachzudenken, die ich früher ängstlich von mir weggeschoben habe. Ich steh mir manchmal selbst im Weg, weißt Du!
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