Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
Vater wieder. Ein Glück, dass Du uns so oft berichtest, wie es mit ihm geht. Lästig, dass euer eigenes Telefon noch nicht angeschlossen ist. Es ist eine grauenhafte Zeit, dieses Warten! Aber umso mehr denke ich an euch. Dein letzter Brief war so pessimistisch. Lieber Schatz, Du musst den Träumen doch nicht zu viel Bedeutung beimessen! Mama hat mir gerade eben noch erzählt, wie sie vor etlichen Jahren dreimal hintereinander einen Alptraum über einen ihrer Brüder gehabt hat, den sie tot in seinem Sarg liegen sah. Das hat sich auch nicht bewahrheitet. Alle ihre Brüder leben noch. Denk jetzt mal nicht so viel daran, ich kann auch nicht dran glauben, solange Dein Vater noch am Leben ist!
›Über einen ihrer Brüder.‹ Welchen Bruder konnte Oma Jopie, Marys Mutter, gemeint haben? Alle ihre Brüder waren alt geworden. Doch war Oma Jopie, ebenso wie ihre Schwester Annetje, immer notorisch hellseherisch gewesen. Mit dem Unterschied, dass Oma Jopies Ahnungen sich oft bewahrheitet hatten.
Vielleicht, dachte ich, hatte sie die drei Träume schon 1924 gehabt, und sie betrafen gar nicht ihre Brüder, sondern ihren Schwager Jacob – Veras Ehemann, der in London ums Leben kam. Aber das wird sie ihren Kindern wohl nicht gesagt haben.
›Solange Dein Vater noch am Leben ist.‹ Es wurde demnach ernsthaft um Großvaters Leben gefürchtet.
Aber seltsam. Am 20. Mai scheint sich die Situation schon wieder geklärt zu haben:
… Wie herrlich, dass es Onkel so viel besser geht. Es muss eine beängstigende Zeit für euch gewesen sein! Und dass wir nicht die geringste Vermutung hatten! Es wäre schön, wenn euer Telefon wieder funktionieren würde, damit wir uns jeden Tag erkundigen können.
Christiaan Mansborg ging es also schon wieder besser. Aber wie konnten Mary und ihre Eltern ›nicht die geringste Vermutung‹ von seiner Krankheit gehabt haben? Es schien so, als hätte Oma Annetje die Familie ihrer Schwester aus irgendeinem Grund da heraushalten wollen. Vielleicht war ja auch alles nicht so gefährlich gewesen, denn Großvater erholte sich zum Erstaunen aller schnell wieder, wie ich Marys folgenden Briefen entnahm.
... Wie toll, dass Dein Vater schon wieder gespielt und gesungen hat! Wie wunderlich schnell ist er doch genesen, findest Du nicht? Fein, dass immer so gutes Wetter ist, dass er den Garten genießen kann. (9. Juni 1941)
... Ist doch herrlich, dass Onkel Christiaan solche Fortschritte macht. Liebster, ich habe große Lust, Sonnabend in einer Woche mit Dir nach Vosseveld mitzukommen! Und sag jetzt bitte nicht wieder nein. Und am liebsten mit dem Fahrrad, wenn Du das nicht lästig findest. (15. Juni 1941)
›Und sag jetzt bitte nicht wieder nein … lästig findest …‹ Bei den letzten Worten blieb ich stecken. Großvater so wunderlich schnell genesen – und doch durfte Mary nicht kommen?Es sah beinahe so aus, als hätte Lepel seine Geliebte von Vosseveld fernhalten wollen. Wo er doch ebenso verliebt in sie war wie sie in ihn. Welcher verliebte junge Mann findet es denn, bitteschön, ›lästig‹, sein Mädchen mit dem Fahrrad abzuholen?
Und es erhoben sich noch mehr Fragen. Am 17. Juli 1941 war wieder etwas mit Großvater:
Was für eine traurige Geschichte jetzt wieder mit Deinem Vater. Sollte es wirklich eine Frage von Monaten werden? Das Haus scheint euch nur lauter Unglück zu bringen …
›Eine Frage von Monaten.‹ Hatte diese ›traurige Geschichte‹ womöglich etwas mit Großvaters Geistesverwirrung zu tun? Dann hatten er und Annetje sich wirklich nicht lange ihres neuen Hauses erfreuen können, bevor dieses Elend begann!
Ich nahm Marys Tagebuch dazu, in der Hoffnung, dort Näheres über diese Geschichte zu finden. Aber sie hatte es erst kurz vor ihrer Heirat, 1943, begonnen, mit einem Bericht über ihren Abschied aus dem Büro.
Am 21. Juni 1943, zwei Wochen vor ihrer Heirat, schrieb sie in Andeutungen über etwas Schreckliches, das sie nicht näher benannte.
Gute drei Wochen sind vorübergegangen, seit ich das letzte Mal schrieb. In diesen Wochen haben wir sehr schöne Augenblicke erlebt, aber auch angstvolle und angespannte Momente. Was kann das Leben doch seltsame, schreckliche Wendungen nehmen! Werden wir in einem Monat glücklich verheiratet in unserm eigenen Haus wohnen oder … werden wir jeder für uns allein sein, fern voneinander? Die Unsicherheit und die Spannung sind schier unerträglich. Was spürt man doch,
Weitere Kostenlose Bücher