Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
Aber ich will jetzt probieren, nicht alles an mir vorbeigleiten zu lassen, mehr zu leben und in allen Dingen das Gute zu sehen …
Mary hielt das allerdings nicht lange durch. Ihre Briefe wurden immer kürzer, und bald musste sie spürbar nach Themen suchen. Allerdings schrieb sie voller Bewunderung über ihren künftigen Schwiegervater. Sie hatte ja auch noch etwas von seinen guten Jahren mitbekommen.
24. September 1940
Gegenwärtig werden ziemlich oft Schubertlieder im Radio gesendet. Aber was sind wir doch schrecklich verwöhnt wordenvon Deinem Vater! Das ist doch ein Riesenunterschied! Darling, ich denke so häufig an das eine Mal, als Onkel Christiaan
Ungeduld
von Schubert sang. Was für ein unvergesslicher Augenblick … Ach, wenn Du wüßtest, wie es mich danach verlangt, ihn wieder zu hören! Na ja, es dauert nicht mehr so lange. Nun, jetzt bin ich schon am Ende, kriege ich bald wieder ein Lebenszeichen von Dir?
Hoppla, dachte ich. War der berühmte Schwiegervater womöglich der entscheidende Faktor bei der Partnerwahl Marys gewesen? Soweit man von einer Wahl sprechen konnte. Im Dezember erinnerte sie sich an ihre erste Begegnung mit Lepel:
Es ist jetzt genau ein Jahr her, dass ich Dich zum ersten Mal sah! War es nicht der 5. Dez.? Ja, ich habe dem guten alten Nikolaus ganz schön viel zu verdanken. Und meiner Tante …
Jetzt, wo ich die ganze Geschichte zum ersten Mal chronologisch durchlas, begann ich mich zu fragen, ob Annetje ihrer Nichte wirklich einen guten Dienst erwiesen hatte. Mary, schmachtend nach Tanz, Kino und Partys, war bei dem ernsten, asketischen Lepel nicht gerade an der richtigen Adresse.
Oh dear me
, wie gerne würde ich mal einen Film sehen! Ich hab manchmal so eine heftige Lust auszugehen, schön zu bummeln, ich verblöde völlig! Und vom Tanzen hast Du ja eigenartige Vorstellungen! Es ist überhaupt nicht ermüdend, schon gar nicht, wenn man einen Slowfox tanzt. Dass ich verd… noch mal nie zu einem schönen Tanzabend gehen kann! Liebster, ich langweile Dich nicht länger und krieche ins Bett. (13. September 1940)
Mary meinte sich sogar für ihre Liebe zum Jazz entschuldigen zu müssen.
Im Moment wird meine Lieblingsmelodie gespielt:
Midnight in Mayfair.
Ein herrliches Stück! Du hättest mich früher mal sehen müssen, wie Lot und ich am Radio hingen, wenn das AVR O-Tanzorchester spielte! Nie kann jemand sich vorstellen, dass ich klassische Musik genauso wie Tanzmusik liebe. Das kommt nicht oft vor! Der Rhythmus ist so erregend und mitreißend. Ich meine jetzt nicht direkt die Saxofone, was man wirklich unter ›Jazz‹ versteht; da bin ich auch nicht so wild drauf.
Mary, die ihre geliebten Tanzplatten nur spielte, wenn Lepel nicht zu Hause war, war dann ein anderer Mensch. Mary, die sagen konnte: »Nie hab ich so herrlich getanzt wie mit meinen Vettern Rob und Piet. Euern Vater brachten ja keine zehn Pferde zum Tanzen …«
Jetzt glaubte ich, in diesen frühen Briefen meiner Eltern bereits Anzeichen ihrer Entfremdung zu finden.
… Ehrlich gesagt, finde ich dies einen ziemlich beunruhigenden Briefwechsel. Dazu kommt, dass ich viel lieber alles mit Dir bespreche. In mancherlei Hinsicht fühle ich mich Dir doch noch so fern und fremd, was weiß ich eigentlich über Deine Gedanken und Du über meine … (3. März 1940)
Berührend fand ich es schon – die junge, noch schwankende Liebe vor dem Hintergrund der grimmigen Kriegsjahre. Die haben sie zwar relativ gut überstanden, aber Marys Möglichkeiten wurden doch sehr eingeschränkt.
Die schönsten Jahre unserer Jugend gehen jetzt so dahin. Oh, ich kann in letzter Zeit so grauenhaft rebellisch sein! Aber das ist dann auch das einzige Gefühl, zu dem ich in der Lage bin.Und was mich besonders rasend macht, ist das dumme Gequatsche im Radio. Den einen Tag: »Der Krieg ist schneller vorbei, als Sie denken.« Ein andermal: »Der Krieg kann noch viele Monate dauern.« Wie lange soll dieser elende Zustand noch anhalten! Wir haben wenig vom Krieg gemerkt, wir durften unsere ganze Familie behalten; wie muss es dann für Menschen sein, die alles verloren haben, ihr Haus, ihren Besitz und die Familie? Ich hab Deinen Brief gelesen und fand ihn schön, nur – warum ist alles so alt und so niedergedrückt? Liebster, ich würde Dich so gern einmal jung und feurig erleben. Aber das kommt bestimmt von der Zeit und den widrigen Umständen! Aber nach dem Krieg, dann
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