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Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)

Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)

Titel: Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dorinde van Oort
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hapern, kein Wunder nach einem ganzen Leben Plagerei mit Orchestern, Intendanten, Kritikern und anderen Ärgernissen. Doch genug hierüber. Wie geht es Dir, das würde ich gerne einmal hören? Arbeitest Du noch? Kannst Du noch spazieren gehen? Ich komme nur noch selten vor die Tür, und komme nicht einmal eine Treppe hinauf. Sogar mein Radio-Treiben geschieht hier von Zuhause aus. In einen Zug komme ich auch nicht mehr. Aber vielleicht bist Du in besserer Verfassung als ich, und wir können uns noch einmal hier treffen? Du bist jederzeit 100   % willkommen und warte nicht auf eine Einladung, nur gerne ein telefon. Zeichen vorab.
    Mit vielen herzl. Grüßen auch von meiner Frau.
    PS Ich wage es nicht so recht, mich nach Deiner Frau zu erkundigen. Ich weiß nicht: Ist sie noch bei Dir, oder ist auch sie schon verschieden – oder habt ihr euch scheiden lassen? Ich frage das mal ganz offen.
     
    Ich blieb bei dem PS hängen. Aus van Anrooys ängstlicher Frage, ob sein Freund eigentlich noch mit Annetje verheiratet sei, könnte man schließen, er habe den Eindruck gewonnen, dass zwischen den beiden nicht immer nur eitel Sonnenschein geherrscht hatte.
    Van Anrooys letzter Brief datierte vom 27.   Februar 1953 – ein halbes Jahr vor Großvaters Tod.
     
    Lieber Freund Christiaan,
    bereits vor einem Monat erhielt ich Deinen Brief. Du schreibst darin so viele traurige Dinge über Dich selbst, Dinge, über die ich nicht die geringste Vermutung haben konnte, so dass ich darauf doch jetzt einmal antworten möchte!
    Auf jeden Fall: eine ›Luftpause‹ von so langer Dauer können wir uns in unserm Alter nicht mehr erlauben, da hast Du wohl recht. Was Du über Dein ›Lebensschiff‹ schriebst, und wie es gestrandet sei, tat mir aufrichtig leid. Was für ein Elend ist das mit Deinen Augen und wie musst Du Dich dann abgequält haben mit Deinem ausführlichen Brief! Schlimmer ist es, wenn man die Noten nicht mehr gut lesen kann oder man muss sich die Einsätze aufschreiben. Auf jeden Fall hast Du ein herrliches Haus mit einem schönen Garten. Das ist ein großes Privileg, wenn man bedenkt, wie elendig viele Menschen heutzutage noch wohnen – ganz zu schweigen von dem großen Unglück in Zeeland. Wir würden nur allzu gern einmal zu Besuch kommen, aber das ist vorläufig wenig wahrscheinlich – es sei denn, es nimmt uns jemand in einem Auto mit. Tut Deine Stimme es noch? Unvergeßlich bleibt für mich Deine Darstellung des Barbier und von so viel mehr   …
    Ermüde Deine Augen so wenig wie möglich, gelegentlich ein Kärtchen ist auch schön.
     
    ›Dein Lebensschiff gestrandet‹. Großvater hatte also noch kurz vor seinem Tod seinem alten Freund sein Herz ausgeschüttet. Worum mag es dabei wohl gegangen sein?
    Und diese Briefe hatte Lepel vernichten wollen!
     
    Ich kehrte zum Fotoalbum meiner Mutter zurück. Im Sommer 1942 ist der Garten bis dicht ans Haus vorgerückt. Bäume, die in unserer Zeit schon gerodet waren, standen noch in voller Pracht da, der Efeu hat die Fassade so weit überwuchert, dass er sich fast schon an den Giebelstein klammert – und Großvater ist auch wieder in Vosseveld. Er steht im Eingang, auf die untere Hälfte der Tür gelehnt, und lächelt Oma Annetje zu, die auf der Schwelle steht in einem getüpfelten Sommerkleid, an ihrem Schal zupfend. Schade, dass der Fotograf nicht noch kurz mit dem Knipsen gewartet hatte: Ihr Kopf ist so verkrampft, ihr Mund so verbissen. Als würde sie sagen: Noch nicht, nicht jetzt.
    Einen Schnappschuss davor oder danach steht Großvater neben ihr vor der Tür, die Haustür hinter ihnen geöffnet, so dass man einen ganz kleinen Blick in die Vorhalle hat, mit Oma Annetjes vorsintflutlichem Parkettbohnerbesen und dem Regenschirmhalter. Der Hutständer, das hölzerne Barometer und die Bleiglastür zur Diele verlieren sich in den Schatten.
    Großvater wirkt gut gelaunt. Welche Probleme es auch gegeben haben mochten – der ›Sturm im Wasserglas‹ hat sich gelegt.
     
    In den folgenden Jahren kommt immer mehr Verwandtschaft nach Vosseveld zu Besuch, mit Fotoapparaten und neuem Familienzuwachs. Mein Vetter Philip, 1944, als blondes Babyin den Armen eines dürren Großvaters; erste Schritte hinterm Haus, Richtung Küchentür, festgeklammert an Großvaters Hosenbein; Großvater, der ihn noch auf den Arm nimmt, in Anbetung des blonden Knaben.
    Mary kommt, mit mir als Baby, als Kleinkind; Lieske und Bennie folgen. Alle nacheinander liegen wir im Garten in Großvaters Armen,

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