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Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)

Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)

Titel: Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dorinde van Oort
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sitzen auf seinem Schoß – und bei jedem Enkelkind ist er aufs Neue entzückt.
    Annetje, Ann, Ans, Ankie, Antie ist jetzt ›Oma‹ Annetje geworden, mit weißen Haaren, hängenden Augenlidern. Die Jahre meiner eigenen Erinnerungen sind angebrochen.
    Die Diele mit dem ausziehbaren runden Tisch, darüber eine persische Tischdecke; rechts vom Kamin der antike Schrank mit den schwarzen Paneelen, der außer Oma Annetjes Kristallgläsern und Messerbänkchen, ihrem Silberbesteck, ihren Damasttischdecken und geblümten Servietten die Schätze unserer Kindheit enthält: das Murmelspiel, die Tapetenmusterbücher, den Topf mit selbst gemachtem Leim, der so lecker roch; die Legepuzzles, das hölzerne Mosaik, das Gänsespiel und die Mahjonggsteine; den Bausteinkasten, die Buntstifte und die Seifenblasenröhrchen und –
last but not least
– die Wybertpastillen und Pfefferminzbonbons, unentbehrlich bei unserm Krankenhausspiel, als der Teewagen auf Rädern zum Puppenbett umfunktioniert worden war.
    Für jemanden, der selbst offiziell nie Kinder gehabt hat, ein ansehnliches Arsenal. Es war Spielzeug, mit dem ihr eigenes Kind gespielt hatte, früher, am Overtoom   …
    Aber wie stand es mittlerweile um Oma Annetje selbst?
    Was ich inzwischen über sie in Erfahrung gebracht hatte, begann meine Erinnerungen zu überlagern wie ein Schleier auf einer Scheibe, auf die jemand Worte geschrieben hat. Plötzlich sah ich nur noch diese Geschichte: Sie hatte einen Mann geliebt, den sie nicht bekam; sie hatte ein Kind zur Welt gebracht, das sie nicht selber großziehen durfte. Sie warum ihre Erbschaft geprellt worden, sie hatte ein Haus gekauft von Geld, das ihr streng genommen nicht zukam. Allerdings waren erst nach Großvaters Tod deswegen Probleme entstanden. Oder doch schon viel eher?
    Großvater war zornig gewesen. Verrückt vor Zorn?
    Ich hatte Großvater nie zornig erlebt, immer ruhig, sogar gelassen. Wenn wir ihm zu laut waren, zog er sich einfach ins Vorderzimmer zurück. Er machte die Tür zu, und dann begannen die Spaziergänge seiner Finger über die Tasten, die das Vorspiel wurden zu einem Lied.
    Der düstere Hugo Wolf:
Kein Schlaf noch kühlt das Auge mir.
Oder:
Tödlich graute mir der Morgen.
    Der liebliche Brahms.
Es kehrt die dunkle Schwalbe   …
oder
Immer leiser wird mein Schlummer
, und obwohl der deutsche Text mir noch unverständlich war, sah ich die Nasenflügel meiner Mutter zittern und wusste, worum es ging: um wehmütige Erinnerungen an eine Jugend, die nie gewesen war, um Glück, das nie kommen würde, um Lieblichkeit, die sich verflüchtigt hatte, bevor sie überhaupt begonnen hatte.
    In der Diele, unterdessen, wurde geflüstert. Oma Annetje bog sich zu Lepel hinüber.
    »…   wieder schwierig letzte Nacht?«
    »…   schon stark verschlimmert   …«
    »Wenn man so an seine glorreiche Zeit denkt«, sagte Mary. Für mich war es immer noch seine glorreiche Zeit. Was konnte schöner sein als dieser Gesang?
    Als das Lied vorbei war, verstummten auch die Stimmen. Im Vorderzimmer war Gescharre zu hören, Geknarze vom Parkett, von Großvater, der da herumschlurfte und, Oma Annetje zufolge, Notenstapel von einer Ecke zur anderen trug.
    Der Sturm mochte sich gelegt haben, es blieb doch immer eine Spannung, eine Bedrohung, als brenne da eine Lunte, als könne irgendwas explodieren.
    Doch auf einem verschwommenen Foto, von meiner Mutter geschossen, sitzt Großvater zurückgelehnt auf einem Gartenstuhl, ich zwischen seinen Knien, mein kleines drei Jahre altes Händchen wie ein Seestern auf seinem Arm, in einer Gebärde vollkommenen Vertrauens. Woher dann Oma Annetjes Blick: Beachte ihn einfach nicht? Woher Lepels kritisches Stirnrunzeln?
    Wenn Doktor Veldkamp von gegenüber herankam, lief Oma Annetje ihm immer entgegen. Wenn sie ihn hinausließ, blieben sie vor der Tür stehen und flüsterten heimlich.
     
    Ich tauchte noch einmal in Onkel Henks Ordner ein. Es gab Briefe aus späteren Jahren, die ich noch nicht gelesen hatte. So stieß ich auf einen Brief von Großvater aus dem Sommer 1949.   Er hatte damals seine Tochter Cora in Belgien besucht.
     
    Lieber Henk, heute fühle ich mich zum ersten Mal wieder besser. Ich war, bevor wir auf Reisen gingen, todmüde, wäre lieber zu Hause geblieben als mitgegangen. Es musste natürlich sein, und als wir erst einmal unterwegs waren in dem großen Auto, in dem man sich bequem ausstrecken konnte, begann mein Interesse für die Landschaft die Oberhand zu gewinnen.

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