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Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)

Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)

Titel: Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dorinde van Oort
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Größtenteils war sie neu für mich. Doch war die Reise ermüdend, weil ich die Reise eigentlich schon ermüdet antrat und die verschiedenen Medikamente viel Unruhe stifteten in meinem Leib.
    Ich hatte damit selber schon eine Regelung gefunden. Ich nahm nur nachmittags ein Morphiumpuder, nicht mehr morgens und abends, und habe heute angefangen, auch dieses ganz auszusetzen. Dank dem Istyzin (3   Past. jedes Mal) ist der Stuhlgang wieder recht gut geworden. Nur meine Tropfen nehme ich regelmäßig und halte den Rest gut im Auge. Ich ruhe viel und komme nur wenig hinaus. Hoffentlich kann Ann sich jetzt auch malgut ausruhen. Es war für uns alle beide die höchste Zeit, dass dies geschah. Wir waren ja wirklich am Siedepunkt angelangt.
     
    Mir klappte der Kiefer herunter: Großvater, der nur eine Dosis Morphium nahm statt zwei? Wenn er unerträgliche Schmerzen gehabt hätte, wofür Morphium verschrieben wurde – wie konnte er sich dann so gut erholt haben, als er es abgesetzt hatte? Morphium, wovon einem schwindlig und schläfrig wird, wovon man Verstopfung kriegt, wogegen wiederum das andere gemeine Zeug   – Istyzin – Abhilfe schaffen sollte?
    Nicht schwer zu raten, wer ihm diese ›Medikamente‹ aufgeschwatzt hatte. Annetje war ja am Siedepunkt angelangt   …
    Nicht nur hatte Oma Annetje Großvater in die Anstalt abgeschoben, als er wegen der Hausfrage explodiert war. Sie hatte danach auch dafür gesorgt, dass er benebelt blieb, für den Fall, dass er sich in seinen lichten Momenten einmal an die Ursache seiner sogenannten ›Geistesverwirrung‹ erinnern sollte. Mit einem Gehirn, das vielleicht noch nicht genug Elektroschocks erhalten hatte, um vollkommen verwüstet zu sein. Und wenn sie noch 1949 dergleichen Mittel für nötig befunden hatte, konnte sie die auch schon früher angewendet haben. Im Frühjahr 1941 zum Beispiel.
    Großvater dachte, er würde vergiftet, hatte Lepel geschrieben. Eine ›Halluzination‹, die zweifellos dazu beigetragen hatte, dass er für ›geistesverwirrt‹ erklärt wurde.
    Mit Morphium vergiftet – oder hatte sie noch andere Mittelchen in petto? Ich dachte an die unheimliche Auflistung von Giften und deren Wirkung in ihrem schwarzen Notizbuch
Lehrgang 1914
– von wegen!
    Fieberhaft suchte ich nach weiteren möglichen Hinweisen. Am 10.   August 1953 – zwei Wochen vor Großvaters Tod – hatte sie an Onkel Henk geschrieben:
     
    Als Du anriefst, war ich wirklich mit meinem Rat am Ende, Christiaan ist geistig so unerreichbar für jedes vernünftige Wort, macht Laken und Kleidung nass und findet das ganz normal. Gestern Morgen spuckte er außerdem wie ein kleines Kind die Sachen aus, aber um 8   Uhr rief er dann selber Dr.   Veldkamp an, musste also selber die Tel. Nr. suchen und regelte das Gespräch selbst, sagte, dass der Dr. sofort kommen solle. Der sagte, er könne erst nach der Sprechstunde kommen, weil das Wartezimmer voller Patienten sei. Vater reagierte darauf ganz normal, gab sehr höfliche Antworten und legte das Tel. gut auf die Gabel. Ich verfolgte natürlich heimlich alles oben von der Treppe. Ich muss Dir sagen, mir ist das alles ganz unbegreiflich – draußen fing ich den Dr. ab und fragte ihn, ob er bei einem wirklichen Anlass bitte für Einlieferung in ein Krankenhaus zur Observation sorgen wolle. Ich sagte, dass ich wirklich am Ende meiner Kräfte sei. Im Gegensatz dazu geht es Vater körperlich viel besser als noch vor kurzem, auch sein Herz, es ist wirklich ein Rätsel. Allerdings konnte der Dr. gut mit ihm umgehen, ich meine: Vater hat Vertrauen zu ihm. Er wollte etwas verschreiben, aber ich sagte: Überlassen Sie das mal mir. Wieder mindestens
f
2.20 für so einen Unsinnstrank, ich lass mir schon was einfallen. Ich hab ihm dann Erbsenbrühe gemacht, danach noch einen Löffel Sirup, Baldrian und ein paar Tr. Pfefferminzöl, und es hilft bestens.
     
    Ich sah die Szene vor mir: Oma Annetje, die den Arzt abfängt, flüsternd auf Einlieferung dringt, Großvater dargestellt als nahezu senil. Anscheinend war Doktor Veldkamp nicht ohne Weiteres darauf reingefallen. Der hatte ja vielmehr befunden, dass es Großvater, zu Oma Annetjes offensichtlicher Enttäuschung, ›körperlich viel besser‹ gehe.
    Trotzdem war ihr Ehemann zwei Wochen später tot.
     
    Ich erinnerte mich noch gut an den Tag. Mein Vater war morgens auf Vosseveld gewesen. Er war gerade zu uns zurückgekehrt –wir hatten mit dem Mittagessen gewartet   –, als unser Nachbar, der Telefon

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