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Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)

Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)

Titel: Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dorinde van Oort
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hatte, aus Belgien herüberzukommen, um ihrem Vater einen Besuch abzustatten.
    Seine Handschrift war kräftig und regelmäßig. Keine Briefe eines Geistesverwirrten.
    Die übrigen Briefe stammten aus späteren Jahren, von Großvaters altem Freund, dem Komponisten und Dirigenten Peter van Anrooy, unter dem er oft als Solist geglänzt hatte. Die Ränder waren versengt, der Text selber war noch einigermaßen lesbar. Die alten Herren waren anscheinend bis kurz vor Großvaters Tod in Verbindung geblieben.
     
    Scheveningen, 1.   November 1947
    Lieber Freund,
    Dein Brief, den ich heute Morgen in Amsterdam erhielt, war eine erfreuliche Überraschung! Was hast Du mir damit doch für eine Freude beschert. Wir waren nach Hilversum und Bussum evakuiert worden und kamen 6   Monate nach der Befreiung wieder in unser Haus zurück.
    Und Du wohnst also mit Deiner neuen Frau in Soest, nicht weit vom alten Utrecht. Wie wunderbar, dass Du Dir meine Radio-Viertelstunden anhörst! Sie sind allerdings nicht für solche Insider wie Dich bestimmt, aber die genießen sie vielleicht gerade, weil sie ein bestimmtes Werk kennen. Du hast also Gott sei Dank Deine Liebe zu Brahms noch nicht verloren. In der Tat,das Requiem gehört auch für mich zum Erhabensten, was in der Sprache der Musik je gesagt wurde. Aber wie wenige verstehen diese Sprache noch. Wo ist die Liebe zur Musik geblieben? Es stürzte alles in Trümmer, so wie die ganze Welt.
    Ob ich mich noch an die A-Dur Sonate von Mozart erinnere, die wir zusammen spielten? Ich weiß sogar noch, wie Du Dich im Musikalischen Zirkel Utrecht zum ersten Mal bei Deinen Liedern begleitet hast. Der Musikalische Zirkel. Er war, bei Lichte betrachtet, doch recht kleinbürgerlich, unter dem Niveau von Wagenaar. Aber immerhin ist der
Doge von Venetien
daraus hervorgegangen   … An wie viele Gesangspartien von Dir ich mich doch noch erinnere! Zuallerst an den
Barbier von Bagdad
von Cornelius – nie übertroffen, nicht einmal durch Lipschitz. Und 1920 hast Du unter mir so großartig die Basspartie im
Requiem
von Verdi gesungen.
    Ich könnte noch Stunden so fortfahren. Aber ich komme zum Ende. Komm uns doch einmal besuchen!
Last not least:
Du hast also doch gehörig viel Krankheit, Schmerzen und Unglück ertragen müssen. Ein Glück, dass Du jetzt wieder einigermaßen auf dem Damm bist. Als Gärtner habe ich Dich noch nie erlebt! Und jetzt herzliche Grüße von Haus zu Haus und ganz viel Dank für Deinen allerköstlichsten Brief.
     
    Anscheinend war Großvater 1947 also wieder imstande, »köstliche Briefe« zu schreiben. Aus keinem Wort ging hervor, dass van Anrooy ihn nicht für vollständig
compos mentis
hielt. Großvater hatte dann sogar allein die Reise nach Scheveningen unternommen, entnahm ich aus van Anrooys Brief vom 20.   Januar 1953:
     
    Lieber alter Freund Mansborg,
    wie lange trage ich schon das Vorhaben mit mir herum, Dir einmal zu schreiben. Aber vielleicht hast Du auch erfahren, dass nicht nur der Weg zur Hölle mit guten Vorsätzen gepflastert ist!Doch gerade weil ich erst vor kurzem voller ›Brahms‹ war, erinnerte ich mich plötzlich, dass es fünf Jahre her sein muss, dass Du uns einen netten Besuch abstattetest, damals hatte ich in meiner Sendung gerade über das Requiem gesprochen. Du hattest damals solche schönen Lieder von Dir selbst mitgebracht. Fünf Jahre – das ist eine ganz schön lange Zeit in unserem Alter, und wie viel kann in dieser Zeit geschehen. Zum Glück vernahm ich über Umwege, dass Du noch am Leben bist. Du wirst jetzt wohl auf die 80 zugehen, denn an die 7   Jahre liegen doch sicher zwischen uns. Als ich 14 war, warst Du für mich ein großer Herr – heutzutage machen die 7   Jahre nicht mehr so viel aus. Ich schreibe doch ein bisschen auf gut Glück, in der Hoffnung, dass Du noch an derselben Adresse wohnst.
    Es wird Dir wohl so gehen wie mir. Der Lebensweg wird, je länger er wird, umso steiler und einsamer. Wie viele unserer Freunde von früher sind schon von uns geschieden, vor kurzem erst Willem Wagenaar – einer der letzten Mohikaner. Man lebt mitten in einer Generation, die keine Vorstellung hat von den goldenen Zeiten ohne Krieg und Elend. Und jetzt habe ich meine Frau noch bei mir, zum Glück noch immer die große Stütze, ein Fels in der Brandung. Aber nein, das Altern ist kein Vergnügen, und doch will man sich vom Leben noch nicht verabschieden. Ich habe in den 5   Jahren ein gehöriges Stück abgebaut, und mit dem Herzen beginnt’s zu

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