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Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)

Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)

Titel: Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dorinde van Oort
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perplex. »Wie kann es denn sein, dass niemand was davon gemerkt hat? Die Arnheimer waren völlig überrascht von der Meldung. Auch Tante Thea. Und Tante Paula, die oft auf Vosseveld war, ist auch nie etwas Seltsames an ihm aufgefallen.«
    »Oh, aber es ging auch ständig auf und ab.«
    Ich holte das Buch über die Pflege von Geisteskranken aus meiner Tasche. »Für eine Zwangseinweisung musste jemand entweder eine Gefahr für seine Umgebung darstellen oder eine Gefahr für sich selbst. Großvater wurde zum Paviljoen Donders gebracht – in die Abteilung für die schwersten Fälle. Das bedeutete Isolierzelle, Zwangsernährung, Zwangsjacke, kalte Bäder – allein schon davon konnte man verrückt werden, wenn man es nicht schon war. Was ja auch oft geschehen ist. Ganz zu schweigen von der Elektroschocktherapie, mit der sie damals so großzügig verfahren sind. Die bleibende Schädenim Gehirn verursachen und das Gedächtnis verwüsten kann.«
    »Tja, die Schocks. Das machen sie ja inzwischen nicht mehr«, meinte Lepel.
    Es entstand eine Stille. Ich holte einen Brief von Notar Zwart aus der Tasche, vom 1.   September 1941, den ich im letzten Moment noch in Oma Annetjes Papieren gefunden hatte, und las ihn Lepel vor:
     
    Im Anschluss an unser Schreiben vom 23.   August d. J. möchte ich Ihnen hiermit die Abschrift des Bescheides des Landgerichts zu Utrecht vom 21.   August 1941 zukommen lassen, bezüglich Ihrer Bestellung zum provisorischen Vormund in Sachen Wahrnehmung der Geschäfte Ihres Herrn Gemahls.
    Nach dem Gesetz vom 27.   April 1884   Artikel 33 verfällt diese Bestellung automatisch, wenn der Patient aus der psychiatrischen Einrichtung entlassen wird. Meines Wissens ist dies inzwischen geschehen. Von Herzen freue ich mich über die hieraus abzulesende Besserung; dementsprechend wird Herr Mansborg nunmehr gegebenenfalls seine Geschäfte wieder in eigener Person führen können und müssen.
     
    »Oma Annetje hat also unmittelbar die Wahrnehmung von Großvaters Geschäften beantragt.«
    »Das musste sie«, sagte Lepel. »Das verlangte das Gesetz.«
    »Das Gesetz war für den Fall vorgesehen, dass Patienten ihre eigenen Geschäfte nicht wahrnehmen konnten. Großvater war aber nach drei Wochen schon wieder für genesen erklärt worden. Ich würde gerne wissen wovon.«
    »Genesen!«, rief Lepel. »Er war überhaupt nicht genesen! Das hat die Familie in Dinxperlo sehr wohl gewusst, als sie ihn partout nicht bei sich haben wollte.«
    »Warum ist er dann nicht nach Vosseveld zurückgegangen?«
    »Ach – er brauchte mal dringend eine Luftveränderung.«
    »Wieso Luftveränderung? Er war doch gerade erst nach Vosseveld umgezogen.«
    »Er musste erst einmal ganz zur Ruhe kommen. Er war noch sehr verwirrt.«
    »Kein Wunder, nach einem Aufenthalt im Paviljoen Donders. Hat es denn keine freundlichere Lösung gegeben?«
    »Es lag am nächsten«, antwortete Lepel und zog an seiner Pfeife. »Den Dolder, Zeist. Praktisch für Besuche.«
    »Für Besuche? Oma Annetje und du haben ihn monatelang da alleingelassen.«
    Lepel stand auf, der Hund schlug an. »Was willst du eigentlich?«, rief er über den Krach.
    »Ich will jetzt endlich die ganze Geschichte hören.«
    »Warum?«
    »Weil ich Oma Annetje nicht traue.«
    »Unsinn, ihr auf einmal für alles die Schuld zu geben. Und jetzt hör mal gut zu. Ich hab seit dem Tod deiner Mutter genug Mühe gehabt, meine Gemütsruhe wiederzufinden. Ich hab vorher schon nicht so gut geschlafen, und dieses Herumwühlen in der Vergangenheit macht das alles noch schlimmer. Ich bitte dich dringend, nicht mehr auf diese Fragen zurückzukommen.«
    Ich bin heute zum letzten Mal hier, schoss es mir plötzlich durch den Kopf. Ich ließ den Blick durch das Zimmer schweifen. Es war im vergangenen Jahr allmählich von Marys Krimskrams befreit worden, von ihren zahllosen Vasen und Schalen, ihren Blöcken und Büchlein, ihren Kalendern, mit denen sie die Zeit im Zaum halten wollte. Nur eine strenge Auswahl von Eiern und bemalten Schachteln waren noch in Marys Schrein ausgestellt.
    Lepel hatte das Haus gesäubert. Der Sog von Chaos und Überfluss, der durch die Zimmer gezogen war, hatte sich plötzlich gelegt; die Türen, die auf Marys Befehl immer offen bleibenmussten (wie auf Vosseveld), waren jetzt alle geschlossen.
    Das Haus in Arnheim war für mich nie ein Elternhaus gewesen. Es fehlte ihm an Persönlichkeit. Willig hatte es sich Marys letztem Lebenstrieb gefügt, ohne eine Spur von Widerstand, so

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