Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
wie Vosseveld ihn geboten hatte. Was noch aus Vosseveld stammte – die alten Kirchenstühle, der Tisch mit den Kugelfüßen, die Uhr mit Atlas und den flankierenden Engeln –, betonte nur die Ungereimtheiten der Umgebung. Sogar Lepels Arbeitszimmer oben, ein braves Zimmer zur Straße hin, war ein Witz verglichen mit seiner früheren wilden Arbeitshöhle, dem Kutschhaus hinter Vosseveld.
»Ist es noch immer dieses Buch über Ann?«, fragte Lepel.
»Es geht mir schon lange nicht mehr um ein Buch. Derartige Geheimnisse können großen Schaden anrichten in einer Familie.«
Lepel lächelte abschätzig. »Schaden. Und für wen?«
»Für mich, zum Beispiel«, sagte ich. »Und für Lieske, und Bennie, und Jaap – ganz zu schweigen von Mary.«
»Mary hatte damit nichts zu tun«, sagte Lepel scharf.
»Genau. Weil ihr sie sorgfältig aus allem
rausgehalten
habt.«
Lepel schwieg. Ich sah zu Marys Schrein. Da stand sie, als junge Frau, mit großen kurzsichtigen Augen und einer Deanna-Durbin-Frisur. Dort saß sie, als Mutter mittleren Alters, in ihrem schwarzen Pulli mit U-Boot -Ausschnitt und ihrem Faltenrock. Auf dem letzten Foto (in einem neuen, silbernen Rahmen) hatte sie ihre Perücke auf und lächelte ein letztes, tapferes Lächeln. Heilig gesprochen. Aber was hilft eine Heiligsprechung, wenn man als Lebender nicht für voll genommen wurde?
Ich hatte vor kurzem eine Fernsehsendung gesehen über die polnischen Soldaten, die 1944 in der Schlacht um Arnheim gekämpft hatten und deren Opfer nie gebührend gewürdigtworden war. Eine ehemalige Krankenschwester, die so einen Jungen in ihren Armen hatte sterben sehen, hatte gesagt: »Wenn man dem Leid keinen Platz im Leben geben kann, dann geht man daran zugrunde.«
»Du steigerst dich da in etwas hinein«, sagte Lepel.
Der Abschied war kurz und kühl. Üblicherweise winkten wir uns immer zu. Diesmal blieb das Fenster, als ich mich umdrehte, leer.
Doch Lepel hatte mir, ungewollt, entscheidende Informationen geliefert.
Die Lungenentzündung, zum Beispiel, die sich Großvater angeblich im Krankenhaus geholt hatte. Mary hatte Lepel zu Ostern geschrieben: ›Was waren es herrliche Tage.‹ Kein Wort über eine Lungenentzündung bei Großvater. Die Lungenentzündung muss sich also erst nach Marys Abreise gezeigt haben. Wenn irgendwo ein Fenster offen gelassen worden war, schloss ich – dann musste das auf Vosseveld gewesen sein. Jetzt wurde die Geschichte ganz und gar schauerlich. Offenbar hatte Oma Annetje versucht, Großvater den Garaus zu machen. Zuerst sollte er sich durch ein absichtlich offen gelassenes Fenster eine Lungenentzündung holen. Als er die überlebte, versuchte sie es als nächstes mit Gift, was Großvater aber merkte und worüber er sich dann auch beschwerte. Daraufhin ließ sie ihn, mit tätiger Mithilfe eines perfiden Hausarztes, in die Anstalt den Dolder einweisen. Wobei die Beschwerden über den Giftanschlag wahrscheinlich sogar noch als Argument für die Einweisung herhalten mussten!
Und Lepel? Hatte er von alledem gewusst? Er hatte Vosseveld ja immer als sein zukünftiges Haus betrachtet – für sich und Mary. Er hatte ein Interesse am Tod seines Vaters. Dann hätte er allein – und nicht seine anderen Geschwister – das Haus von Oma Annetje geerbt.
Ich wollte ihn nicht vorschnell verurteilen. Vielleicht warenOma Annetjes Aktionen ja erst viel später zu ihm durchgedrungen. Vielleicht war das erst geschehen, kurz nachdem wir selber in Vosseveld eingezogen waren. Vielleicht war das die tiefere Ursache für all die Konflikte gewesen. Vielleicht hatte Lepel seine Stiefmutter gerade deswegen später so gehasst.
Und all die Zeit war meine Mutter völlig ahnungslos gewesen.
Marys heldenhafter Kampf mit dem Haus kam in all seinen Phasen zum Vorschein. Sie war damals jünger als ich jetzt, wurde mir wehmütig klar.
Oma Annetjes Auszug war der Startschuss zu Säuberungen in großem Stil gewesen. Der alte Eingang wurde mit sofortiger Wirkung seiner Funktion enthoben, die schöne, zweiteilige Eichentür wurde verriegelt, die Vorhalle, nach gründlichem Bohnern und tagelangem Lüften, zu einer Abstellkammer degradiert. Doch der scharfe, alte Geruch, der dort hing, war anscheinend nur schwer zu vertreiben, und erst nachdem Mary an die fünf Dosen Tannenduft in alle Ecken und Löcher gesprüht hatte, betrachtete sie die Atmosphäre als genügend erfrischt, um dort, neben Oma Annetjes zurückgebliebenem Parkettbohnerbesen, ihren eigenen Mopp
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