Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
und Besen zu verstauen.
Um Nicht-Eingeweihte über die Außerbetriebnahme zu informieren, hatte Mary ein Stück Karton hinter das kleine Fenster der Haustür geschoben: kein zugang. eingang andere seite, in grimmigen roten Buchstaben. Ansonsten musste das pfeilartige Schild auf der Boenia-Seite genügen. Nichtsdestotrotz blieben die geistig Trägeren, zu Marys Verärgerung, dabei, sich zur alten Haustür zu begeben, den bronzenen Klopfer zu berühren, den Lepel mit einem Bolzen befestigt hatte, dann die Kupferklingel zu suchen, die Lepel entfernt hatte, bis ihr befremdeter Blick auf Mary stieß, diehinter dem Seitenfenster stand, an die Scheibe klopfte und zur Seite deutete.
»Da! Da! Da lang!«, zeigte sie, eine Hand in die Hüfte gestemmt, die Nase in die Höhe gereckt und die Stirn in tiefe Falten gelegt. Sie knurrte: »Sehen die denn nicht, dass der Eingang da ist,
da-ha
?!«
Die Intelligenz der Besucher wurde an der Geschwindigkeit gemessen, mit der die Anweisungen begriffen und befolgt wurden.
»Na, na. Der ist auch nicht helle«, lautete ihre Schlussfolgerung auch über Freunde und Freundinnen, die sich verirrten. »Der hat das Pulver auch nicht erfunden«, urteilte sie über nichtsahnende Fremde, die ihre ersten Schritte auf unsern Weg setzten. »Ach, sieh mal. Wahrhaftig. Der hat’s begriffen!«, spottete sie, als ein gescheiter Neuling nach dem Lesen der verschiedenen Texte folgsam zur Boenia-Seite eilte.
So wurde zahllosen Besuchern auf Vosseveld eine verwirrende erste Begrüßung beschert. Einschließlich der Psychologin, die kam, um meinem Bruder Bennie mit Gesprächen zurück auf den rechten Pfad zu helfen. Einschließlich des Pfarrers, der kam, um uns die Nachricht von Bennies Tod zu überbringen.
Die Haustür war aber nur der Anfang. Das alte Badezimmer wurde nach Oma Annetjes Weggang neu gestrichen, das alte Schlafzimmer komplett modernisiert. Oma Annetjes Frisiertisch musste einer weißen Kommode weichen, die Waldansicht über dem Spiegel einem bunten Aquarell. Es folgte die Platzierung des Ehebettes, das auf Marys ausdrücklichen Wunsch mit dem Fußende gegen die andere Wand gestellt wurde, eine unlogische Anordnung, denn die Schlafenden lagen jetzt mit dem Kopf direkt an der Tür. Außerdem war das Badezimmer nicht mehr, so wie früher, praktisch mit einem Schritt aus dem Bett zu erreichen.
Ein Vorteil war es schon, dass der ›geheime‹ Schrank jetzt nicht mehr durch das Bett verbarrikadiert wurde. Mary hatte ihn ausgemistet, eingeseift, mit Tannenduft eingesprüht und eingerichtet als Stauraum für Sommer- und Winterkleidung, Koffer, Decken und überflüssiges Mobiliar.
In unserem angrenzenden Mädchenzimmer hatten Lieske und ich von Oma Annetjes Anwesenheit nie etwas gemerkt. Aber von dem Moment an, da meine Eltern das Schlafzimmer übernahmen, waren durch die dünne Wand bis nach elf Uhr Kommentare über unser explosives Familienleben zu hören und unseren wenig erbaulichen Anteil daran.
Auf unserer Seite ging es ebenso unfriedlich zu. So lieb Lieske mir war, sie brachte mich oft zur Raserei. Sie redete mit ihren Puppen, während ich mich mit Homer abrackerte. Sie war immer erkältet. Ein Schränkchen diente als Trennwand, damit wir uns zumindest nicht zu sehen brauchten. Aber zu hören war sie noch, und nicht nur sie. Das Holzwändchen, das uns von unsern Brüdern trennte, dämpfte die Aussicht, aber nicht das Getöse. Auch sie waren ständig erkältet.
Erst wenn alle Geräusche verstummt waren, brach mein Nachtleben an. Im Dunkeln den
Erlkönig
rezitieren. Auf dem Plattenspieler in meinem Kopf
Die Winterreise
abspielen. Vor dem Einschlafen Stammformen und mathematische Gleichungen aufsagen. Viel zu schnell kam der kalte, graue Morgen, und das Zimmer verhüllte nicht mehr, es stellte bloß.
Als Lieske das frühere Elternschlafzimmer beziehen durfte, das Mary noch einige Jahre lang als Näh- und Hobbybollwerk verteidigt hatte, bekam ich das Mädchenzimmer endlich für mich allein. Die Schräge unter dem Dach war der ausgewählte Platz für das Bett. Obwohl die rechte Wand unter dem Fenster auch Vorteile hatte: in der Frühe Hausaufgaben machen bei Vogelgezwitscher und Akazienduft, Aussicht auf das Haus von Ron, dem jungen Mann, der mir so gut gefiel undmit dem es etwas zu werden versprach. Bis das Bett wieder zur hinteren Wand verschwand, unter einer Collage von Dutzenden Romy Schneiders und einem Gérard Souzay, der, an seinen Flügel gelehnt, über mein gebrochenes Herz
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