Frau Prinz pfeift nicht mehr
Gedanken, aber so –«
Ingrid richtete sich auf, sah die Alte so liebevoll bittend an, daß ihr Gesicht plötzlich weich aussah. »Die Leute machen
sich bestimmt keine Gedanken, nur du machst sie dir, Millie, ich verstehe es ja, die Entführung, das kann einen schon irritieren,
wenn so was auf einen Tag fällt. Ich konnte es mir nicht aussuchen, meine Freundin brauchte den Urlaub, ihre Mutter hat sich
den Knöchel gebrochen, es war ja verabredet, daß |58| sie den Niki nimmt. Meine Freundin war völlig fertig, sie konnte auch nicht mehr zurücktreten von der Reise, dann hätte sie
ziemlich viel Geld verloren. Es wäre schlimm für sie gewesen, wenn ich den Kleinen nicht genommen hätte.«
Die alte Frau, es war Emilie Koch, die frühere Zugeherin der Familie Prinz, sah Ingrid zweifelnd an. Sie war bereit, alles
für die Tochter der ersten Frau Prinz zu tun, ihrer langjährigen, liebenswürdigen Arbeitgeberin. Sie hatte die kleine Ingrid
aufwachsen sehen, geliebt und verwöhnt von der Mutter, und sie hatte miterleben müssen, wie kalt die Stiefmutter das Kind
behandelte, wie ein Möbelstück, das man übernehmen mußte, weil es zum festen Inventar gehörte. Und wenn sie schon mal mit
dem Kind gesprochen hatte, dann war es Gift für die Kleine. Ihren eigenen Ärger, ihren Lebensfrust, ihren ständig wachen Neid
auf Gott und die Welt hatte die zweite Frau Prinz auf der kleinen Ingrid abgeladen. Aus dem früher offenen, gutherzigen kleinen
Mädchen war ein verdruckstes, mißtrauisches Kind |59| geworden, das im Laufe der Zeit die Sicht der Stiefmutter übernahm. Als dann der Bubgekommen war, der Nepomuk, war es für
eine Weile bessergegangen. Die Geschwister fanden Halt aneinander, die Prinz hatte nicht mehr so großen Einfluß auf Ingrid.
Dann war auch der Bubtot, mein Gott, die Ingrid hatte geheiratet, aber der Schwiegersohn verstand sich gar nicht mit der alten
Prinz, mit der Ingrid wohl auch nicht. Es hieß, er hätte sie gar nicht geheiratet, wenn nicht ein Kind unterwegs gewesen wäre.
Die Schwangerschaft ging schief, der Schwiegersohn zog sich immer mehr zurück, Ingrid geriet wieder völlig unter die Fuchtel
der Alten, wurde genauso frustriert und übellaunig wie die Stiefmutter.
Emilie Koch wußte das alles, trotzdem hing sie an Ingrid, sie war das einzige, was ihr geblieben war von einem langen Arbeitsleben.
Seit ihren jungen Jahren war Emilie bei den Prinzens im Dienst. Bei den Eltern Prinz, dann beim Sohn und seiner Frau Dina,
die von Emilie fast vergöttert wurde, so liebenswürdig war sie gewesen. Als dann |60| die zweite Frau Prinz ins Haus gekommen war, hatte das Emilie Koch erschüttert. Wie hatte Herr Prinz sich nur derart vergreifen
können? Widerwärtig, hochfahrend war diese neue Frau Prinz, Emilie fand beim besten Willen kein gutes Haar an ihr. Kein einziges.
Am meisten hatte sich Emilie an dem Pfeifen gestört. Emilie hatte sich oftmals gefragt, warum die Nachbarn so langmütig blieben.
Nun ja, jeder wollte Streit aus dem Weg gehen, jeder wußte, daß Frau Prinz II unausstehlich war. Anfangs hatte sie auch Emilie
angegriffen, doch da wurde sie von Herrn Prinz so zusammengestaucht, daß sie Emilie in Ruhe ließ. Vor Zeugen befleißigte sie
sich sogar einiger Freundlichkeit. Das war Emilie noch unangenehmer als ihre offene Aggression. Wegen des wirklich rechtschaffenen
Herrn Prinz und wegen der Kinder war Emilie geblieben, bis dann das mit der Treppe kam ...
Heute noch, nach all den Jahren, zog sich Emilies Brust zusammen, traf sie ein Stich in die Herzgegend, sie durfte nicht daran
denken. Muck und Ingrid hatten sich bei |61| ihr für die Mutter entschuldigt, ihr Blumen gebracht, Konfekt, hatten sie immer wieder besucht. Sie glaubten nicht, daß Emilie
zuviel Wachs oder Schmierseife auf die Treppe getan hatte, glaubten, daß der Vater wirklich unglücklich ausgerutscht war.
Emilie jedoch machte sich so ihre Gedanken. Warum hatte die Prinz II gerade an dem Tag verschlafen? Wer hatte Schmierseife
auf die zweite Treppenstufe getan? Emilie nicht, soviel war sicher. Die Prinz II hätte Gelegenheit gehabt, Seife auf die Treppe
zu schmieren, und Gelegenheit, wieder alles in Ordnung zu bringen. Diese Gedanken verließen Emilie nicht, aber um der Kinder
willen hatte sie alles für sich behalten. Schließlich hätte sie Beweise gebraucht. Doch abheute war das alles Schnee von gestern.
Frau Prinz II pfiff nicht mehr.
Emilie
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