Frau Prinz pfeift nicht mehr
schaute Ingrid aufmerksam an. Sie konnte keine Veränderung in ihrem Gesicht sehen, keine verweinten Augen, keine Erschütterung.
ObIngrid überhaupt schon wußte, daß die Stiefmutter tot war? Emilie hatte Frau Prinz II gesehen, als sie tot im |62| Vorgarten lag, zunächst wollte sie ihren Augen nicht trauen, aber es war die Realität gewesen, alle Nachbarn hatten die Prinz
erkannt. Welch ein Zufall, daß Emilie heute auf ihrem Gang in die Max-Ernst-Straße gerade zu diesem erhebenden Anblick zurechtgekommen
war. Es trieb Emilie ständig zum Haus Nummer 75, seit dem Tod des Herrn Prinz. Alle paar Tage ging sie den Gehsteig auf und
ab, sie wartete, bis die Prinz II aus dem Haus kam, dann stellte sie sich neben das Gartentor, sah der Prinz II in die Augen.
Die wandte sich immer ab, rasch, ohne Emilie anzusehen. Aber sie wagte es niemals, Emilie vom Tor zu weisen.
Heute hatte es die Prinz II getroffen. Endlich. Emilie empfand Grauen und Freude zugleich. Jawohl, Grauen und Freude, aber
vor allem Freude. Und das Grauen würde bald weichen, der Anblick der häßlichen Toten verblassen, und Emilie konnte unbelastet
ihr letztes Restchen Leben genießen. Mein Gott, es gab doch noch Gerechtigkeit.
|63| Aber das mit Ingrid und dem Kind – das gefiel Emilie nicht. Und die Entführung des Aussiedlerkindes ging ihr auch nicht aus
dem Kopf. Im Grunde wußte Emilie, daß Ingrids Geschichte von der verreisten Freundin erlogen war. Emilie war aufs höchste
beunruhigt.
»Hat deine Freundin keine Großeltern, keine Geschwister, die den Kleinen nehmen könnten?« Emilie hatte Zweifel daran, daß
Ingrid so unersetzbar sein sollte für diese Freundin, von der sie früher nie etwas erzählt hatte.
Mit jedem Tag mehr, und Emilie hatte den kleinen Niki knapp eine Woche in der Wohnung, mit jedem Tag mehr geriet Emilie in
Gewissensnöte. Sie war schon so nervös, daß sie ständig das Telefon klingeln hörte, hinrannte, obwohl niemand anrief. Ihr
Verdacht verstärkte sich, wurde bald zur Gewißheit. Eigentlich hätte sie Ingrid gar nicht mehr fragen müssen. Sie wußte ohnehin,
daß Niki das Kind der Aussiedlerfamilie war, das man vor einem kleinen Gemischtwarenladen in Nymphenburg aus seinem Kinderwagen
entführt hatte, Emilie |64| verfolgte den Fall jeden Tag in der Zeitung. Die Eltern, Aussiedler aus Kasachstan, hatten in dem Viertel eine Sozialarbeiterin
aufgesucht, Emilie wußte, es handelte sich um Frau Molden, die Nachbarin der Prinz. Die Aussiedler waren nach einer knappen
Stunde zu dem Gemischtwarenladen gegangen, um etwas zum Essen einzukaufen. Die fünf älteren Kinder der Familie blieben gemeinsam
mit den Molden-Kindern im Garten. Im Hegemannschen Laden war es zu eng für den Kinderwagen, außerdem war der Kleine gerade
eingeschlafen gewesen. Wegen der hochgebauten Regale hatte man auch keine Sicht ins Freie, so daß die Entführung zunächst
unbemerkt geblieben war.
Emilie kannte schließlich Nymphenburg nur zu gut. Und sie kannte auch den Gemischtwarenladen, der einer ebenso fülligen wie
warmherzigen Frau gehörte, Frau Hegemann, die außer einem überraschend gut sortierten Angebot für ihre Kunden Herzlichkeit
und Anteilnahme bereit hatte. Schließlich hatte Emilie oft genug bei ihr eingekauft, man hatte Kochrezepte ausgetauscht, |65| und Emilie hatte nach Thomas gefragt, dem einzigen Sohn Frau Hegemanns, die finanziell ungünstig von einem Schwaben geschieden
war, den sie einen vertriebenen Schotten nannte. Frau Hegemann fragte Emilie jedesmal, wie es Ingrid ergehe, von der sie wußte,
daß sie Emilies heimlicher Lebensinhalt war. Wir Mütter, hatte Frau Hegemann oft gesagt, und Emilie wußte, was sie damit meinte,
und es hatte ihr gutgetan.
Mit Frau Hegemann hatte Emilie auch manchmal über die Moldens gesprochen, eine Familie, die noch nicht lange in der Max-Ernst-Straße
lebte. Im Gegensatz zu Ingrid Prinz, die ihre neuen Nachbarn nicht ausstehen konnte, hatte Frau Hegemann nur gute Erfahrungen
mit ihnen gemacht. »Die Moldens, eine süße Familie. Die Zwillinge, so nette Kinder, höflich, sie klauen nur ganz selten, und
auch nur was Kleines, denen kann man ja nicht böse sein.«
Von Frau Hegemann hatte Emilie erst gestern erfahren, daß die Aussiedler bei Frau Molden gewesen seien. »Frau Molden hat |66| für die Familie irgendeinen Streit ausgefochten, ein Supermarkt, bei dem die Aussiedlerfrau gearbeitet hat, wollte ihr kein
Geld
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