Frau Schick macht blau
schnauzt der Kleiderschrank mit Glatzkopf, will noch einmal nachfassen und winkt erneut nach Verstärkung. »Das ist eine geschlossene Gesellschaft.«
»Keine Bange«, weicht Herberger ihm aus und wendet sich zum Gehen. »Ich will gar nicht hinein.«
Nicht mehr.
Noch nie im Leben hat er eine derart exaltierte Liebeswerbung gesehen und eine von der ach so wahren Liebe und von einem Kuss derart hingerissene Frau wie Nelly.
Darum also hat sie sich nicht gemeldet. Selbst ihr Handy hat sie ihrer Tochter überlassen, um sich ein unbequemes Geständnis zu ersparen, konstatiert Herberger mit schockbetäubtem Herz. Später, das weiß er, wird es höllisch schmerzen. Dann, wenn die innere Kernschmelze einsetzt. Er wird morgens mit einem glühenden Messer in der Brust aufwachen, und sein Hirn wird es um- und umdrehen. Der Wachzustand wird über Wochen, vielleicht Monate eine Qual sein. Seine Gedanken werden sich, falls er sie nicht bewacht oder sich ablenkt, einer nutzlosen Wiederholung des immer Gleichen hingeben: Es kann nicht wahr sein, ich kann mich nicht so getäuscht haben. In schwachen Momenten oder vor dem Einschlafen wird er in Endlosschleife den Kuss sehen, und sein Kopf wird wütende, verzweifelte, flehende Gespräche mit Nelly führen, die am Ende nur eine Erkenntnis zulassen: Er ist ein Idiot.
Nellys Liebe zu ihm war nicht sprachlos, weil sie unermesslich ist, sondern nicht vorhanden. Vielleicht war sie es nie. »Einer stirbt dabei immer«, hat Hemingway mal über Liebeskummer gesagt. Jetzt also ist er dran. Mal wieder, wie damals nach Penelope.
IDIOT.
Mit Träumen ist es wie mit allen Drogen: Die Ankunft auf der Erde, wenn der Rausch vorbei ist, ist unbarmherzig hart. Erst recht, wenn man nach einem tumultartigen Auftritt in einem Hotelfoyer zwei Polizisten mit knarzenden Funkgeräten und Böser-Bulle-Mimik in die Arme läuft.
»Gehört der Jaguar in der Feuerwehreinfahrt Ihnen?«
»Ja«, knurrt Herberger unwirsch und besinnt sich. »Nein, nicht wirklich. Der Jaguar gehört Frau Schick.«
»Aha! Den Führerschein und die Fahrzeugpapiere, bitte.«
15.
In was für eine Räuberhöhle ist sie hier nur hineingeraten?
Frau Schick liegt dick eingemummelt in Wolldecken auf einem Ausklappsofa. Auf ihrer Nase sitzt – ganz ausnahmsweise – ihre Brille. Sieht ja keiner.
Ihr Blick wandert über mit Holzpaneelen und Prilblumen beklebte Wände zu einer Küchenzeile Baujahr zirka 1974. Von oben her wird sie durch einen zwinkernden Gartenzwerg bewacht, der in seiner Linken eine Laterne trägt und in der Rechten eine Gießkanne, mit der er eine Klopapierrolle mit Häkelmütze wässert.
Ihre Augen gleiten hinab zu einem Resopaltisch mit orangefarbener Plastikdecke, die um die dreißig Jährchen auf dem Buckel hat. Immerhin hat Herr Engels eine Vase mit violetten und gelben Ringelblumen draufgestellt. Eine verriegelte Metalltür, an der eine grüne Latzhose und eine rostende Grabgabel baumeln, gibt es auch.
Also wirklich, geschmacklich ist die Räuberhöhle das reinste Gruselkabinett und die in einem Einmachglas flackernde Kerze auf dem kalten Gasöfchen neben ihr bringt sämtliche Schatten zum Tanzen.
Trotzdem ist diese Laube sagenhaft gemütlich, befindet Frau Schick und kuschelt sich in die Decken. Oh ja, sie fühlt sich geborgen wie lange nicht. Die Räuberhöhle ist ihr nämlich wohlvertraut, obgleich sie früher vollkommen anderes eingerichtet war. Viel, viel bescheidener war die Möblierung direkt nach dem Krieg.
Holzverkleidete Wände wären undenkbar gewesen. Das Holz hätte jeder im klirrkalten Jahrhundertwinter 1946 sofort und mit Freuden verfeuert – ganz so, wie es der galgenhumorige Ringelnatz es in seinem Gedicht Draußen schneit’s mit dem Schaukelpferd Bubi tut, dem er fröhlich den Rumpf zersägt, dem er die Beine rausdreht und das Fell abschält, um ein Feuerchen zu entfachen, »dass die Esse kracht und die Anna singt und die Anna lacht«.
Paulchen hat ihr im Winter ’46 in dieser Laube oft Ringelnatz aufgesagt und Wilhelm Busch, damit sie was zu lachen hatte. »Lachen tötet die Furcht«, hat Paulchen gemeint. Recht hatte er. Und obwohl sie noch ein Kind war und bei Bubi Schaukelpferds Flammentod nicht nur Lachtränen vergoss, wurde Draußen schneit’s ihre allerallerliebste Gutenachtgeschichte. Weil es dank Bubi mit ihrem Leben weiterging und sie genau wie Ringelnatz fand: »Die Freiheit ist auch was wert.«
Frau Schick schließt die Augen, entfernt im Geiste rigoros die Holzpaneelen
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