Frau Schick macht blau
Tresen.
»Was soll das?«, brüllt Nelly in Beckys rechtes Ohr, als ein blendender Stroboskopblitz sie von Kopf bis Fuß abtastet. »Ich bin doch kein Gogo-Girl!« Sie sucht verzweifelt Deckung.
»Entspann dich, Mama. Du musst nicht tanzen, nur sehr überrascht gucken, das wird alles aufgezeichnet«, frohlockt Becky und gibt ihr einen Stups nach vorn. »Das ist ein Flashmob.«
Überrascht zu gucken fällt Nelly nicht schwer – sie macht seit Beginn der Tanzdarbietungen nichts anderes. Zu ihrer grenzenlosen Erleichterung wandert der Blitz nach einer kurzen Gesichtskontrolle endlich weiter.
»Was ist ein Flashmob?«, versucht sich Nelly mit einer Frage an Ricarda gegen das Lärmen durchzusetzen.
»Scheinbar spontane Tanz- oder Gesangsdarbietungen an unerwarteten Orten«, erläutert ihre Freundin von rechts. »Die Telekom hat mit Videos von Flashmobtänzen in europäischen Bahnhöfen bis zu dreißig Millionen Klicks auf Internetvideokanälen eingefahren. Eine legendäre Imagekampagne. Gute Flashmobvideos erreichen mehr Zuschauer als jeder TV-Spot, noch dazu solche, die derartigen Schwachsinn wirklich sehen wollen. Gott, die ziehen sich ja alle bis auf die Unterhosen aus!«
»Aber was hat das mit mir zu …«, setzt Nelly an, als die Musik schlagartig verstummt. Die Fahndungsscheinwerfer bündeln sich zu einem Lichtstrahl, der in sphärischem Blau ihr Sofa und das Piano hinter ihr ausleuchtet. Zart getupfte Klaviertöne gebieten einem sich ankündigenden Beifallssturm Einhalt – und Jörg Barfeld eine Bühne.
Mühelos findet Nellys Exmann den Schmelzkäseton, in dem Bing Crosby in High Society dereinst Grace Kelly wahre Liebe und pausenloses Eheglück versicherte. Nelly dreht vorsichtig den Kopf. Wie immer von seiner Kunst ergriffen, schmachtet Jörg die Ballade ins Mikrofon und in ihre Richtung. Sein Gesicht ist mit einem perfekten George-Clooney-Zwinkern garniert. Gerade richtig ironisch, um True lov e à la Crosby in die Moderne zu retten.
Nelly ist so baff wie der Rest des Saals. Jörg umrundet samt kabellosem Mikrofon und in blütenweißem Jackett das Loungesofa. Seine silbern ergrauten oder gefärbten Schläfen schimmern metallisch. Er bleibt seitlich zum Publikum und somit in perfekter Bühnenposition vor Nelly stehen.
Nelly krümmt sich wie angeschossen im Sofa zusammen und sieht damit wahrscheinlich unfreiwillig wie hingegossene Bewunderung aus, während Jörg Möchtegern-Clooney sich dem Refrain nähert.
»I give to you, what you give to me …«
Zehntausend Euro hin oder her – Nelly findet, dieser Auftritt hat das Maß alles Erträglichen überschritten. Sie irrt sich, Jörg Barfeld kennt – wie immer – Steigerungsmöglichkeiten.
»… true love …« , beteuert er und geht in Zeitlupe vor ihr auf die Knie.
Nelly will nur noch eins: hier weg. Mit olympiareifer Kraftanstrengung entkommt sie mit einem Satz den Klauen des Kuschelsofas. Nichts kann sie hier festhalten.
Doch. Der ohrenbetäubende Krach, mit dem die Band wieder loslärmt, und Jörg, der das Mikrofon einem herbeiturnenden Tänzer zuwirft, geschmeidig nach oben federt und seine Smokingjacke mit der Entschlossenheit eines Exhibitionisten vor ihr aufreißt.
Nelly ist star vor Fassungslosigkeit.
»Genau so bleiben, Mama«, souffliert Becky aus dem Hintergrund. »Und einfach hingucken.«
Ein Laserspot erübrigt die Frage nach dem Wohin. Er leuchtet Jörgs durchtrainierte, haarlose Brust taghell aus. Darauf prangen ein blutrot aufgemaltes Tattoo-Herz und der innovative Refrain der Slip-Kampagne: »Bad boys need true love.«
»Cut«, zischt Becky. »Und aus.«
Nicht für Jörg Barfeld. Der hat noch eine Zugabe in petto. Er reißt die vollends verwirrte Nelly an sich, schwingt und zwingt sie mit dramatischer Drehbewegung in seine rechte Armbeuge.
Nelly muss sich in sein Dinnerjackett krallen, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren, während Jörg ihr einen vollendeten Leinwandkuss auf den Mund drückt.
Das muss er sich von Rhett Butler alias Clark Gable abgeguckt haben, denkt Herberger abgekämpft und auf einen Schlag todmüde. Er befreit seinen rechten Arm mit dem Geschick des geübten Aikido-Kämpfers aus dem Klammergriff eines Türstehers, der ihn von einem Bullaugenfenster in der Schwingtür zur »Bond Bar« wegzerren will. Dieser Vollpfosten mit Knopf im Ohr blafft seit fünf Minuten SOS-Sprüche (»Brauche Beistand. Randalierer auf Position eins, beherrscht Kampfsport«) in ein Headset.
»Geben Sie auf, Mann«,
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