Frau Schick macht blau
von den Wänden, reißt die Küchenzeile ab und stellt Paulchens verschwundenes Behelfsmobiliar zurück an seinen Platz.
Ja, so dürfte es stimmen: nackte, weiß verputzte Wände beklebt mit Zeitungsfetzen, die zum Feuermachen nicht taugten, davor ein geklautes Bunkeröfchen, ein Wackeltisch, zwei Hinkebeinstühle, Munitionskisten als Vorratsschränke und ein als Kochtopf dienender Soldatenhelm. Fertig ist Paulchen Schicks heimliches Hauptquartier für Schwarzmarkthandel en détail und en gros.
Im Soldatenhelm hat er Muckefuck aus Bucheckern gebraut und später – als der Handel in Schwung kam und echte Schätze einbrachte – sogar Nescafé mit Zucker. Getrunken haben sie ihn aus Granathülsenbechern. Das war der beste Kaffee ihres Lebens. In dieser Laube konnte sie hin und wieder Zuflucht suchen vor Tante Freda, hier haben sie und Paulchen den Grundstock für ihr Vermögen gelegt. Ja, sie hat diesem Wald sehr viel zu verdanken: den Beginn einer großen Liebe und ein langes und erfülltes Leben.
Frau Schick bettet selig lächelnd den Kopf auf ein Kissen, das etwas muffig riecht, obwohl Herr Engels es ausgeklopft und frisch bezogen hat. Mit Sonnenblumenwäsche. Getrocknetes Lavendelkraut und Baldrian hat er auch hineingestreut.
Ihre Nase sucht schnuppernd nach dem Kräuterduft. Wunderbar, jetzt kann sie ihn riechen. Also den Kräuterduft, nicht Herrn Engels, der schläft ein paar Häuser weiter in einem Doppelgarten in seiner formidablen Blockhütte mit zwei Räumen, einem kleinen Bad und Solarstromanlage. Alles selbst gebaut. Niklas haust in einem Bauwagen direkt nebenan.
Ein Glucksen stiehlt sich in ihr hoch und wächst zum Kichern, weil ihr dazu ein ganz und gar alberner Kindervers einfällt. Er zwingt sich regelrecht auf: »Das ist das Haus vom Nikolaus, und nebenan wohnt Weihnachtsmann.«
Ein Nachtlager beim Weihnachtsmann hat sie allerdings strikt abgelehnt, weil sich das nicht schickt und sie außerdem einer Nacht mit Erinnerungen an Paulchen und den abenteuerlichen Beginn ihrer Liebesgeschichte nicht widerstehen konnte.
Vor über einem halben Jahrhundert hat sie in dieser Gartenlaube ihr Paulchen kennengelernt. Auf der Flucht vor einer britischen Militärpatrouille, die das Rumpeln und Klirren ihrer Knolli-Brandy-Fuhre vernommen hatte. Genau wie Paulchen. Ohne den wäre sie den Häschern mit den angelegten MPs nie und nimmer entwischt. Paulchen – der indianerschlaue Waldläufer – ist jedoch plötzlich aus dem Unterholz gesprungen, hat das vor Angst und Eiseskälte erstarrte Röschen vom Kinderwagen weg in einen Granattrichter gezerrt und »Klappe halten« geraunt.
Die Militärpatrouille hat sich mit der Erbeutung des schnapsgefüllten Kinderwagens zufriedengegeben, Paulchen aber hat sie mucksmäuschenstill durch die Finsternis und den leuchtenden Schnee in die damals schwarz bewohnte Gartenkolonie und seinen Unterschlupf gerettet.
Von da an waren sie – das zwölfjährige Röschen und der knapp zehn Jahre ältere Paul – Geschäftspartner. Jahre später wurde mehr daraus. Ein Bund fürs Leben. War das ein Segen!
Soll Bummelant Herberger ruhig bei Nelly bleiben, sie schläft ja heute Nacht selbst in einem Paradies, das sie für immer verloren glaubte.
Paulchen, Paulchen, für Überraschungen warst du immer gut!
Sie streichelt ihr Sonnenblumenkissen behutsam, wie man Kinder- oder Greisenwangen streicheln muss. Schenkt dieses Schlitzohr ihr doch glatt eine komplette Gartenkolonie samt dem Knolli-Brandy-Wald aus ihren Schnapsschmugglertagen! Er hat den Wald dem Weihnachtsmann abgekauft, als der vor Jahren einmal knapp bei Kasse war, und hat nie, nie einen Ton davon gesagt.
Sie schluckt hart. Das war auch schlecht möglich. Paulchen ist nämlich kurz vor Frau Schicks 72. Geburtstag und der Geschenkübergabe zum sechzigsten Jahrestag ihrer ersten Begegnung verstorben. Fünf Jahre ist das her.
Herr Engels hat ihr den Entwurf einer Schenkungsurkunde auf ihren Namen gezeigt und einen Brief von Paulchens Lieblingsnotar, in dem alles haargenau erläutert ist, unter anderem, dass der Wald von der Schick und von Todden GmbH nicht zu Bauzwecken erworben wird und allein ihr gehören soll.
Herr Engels hat sich natürlich all die Jahre gewundert, dass Frau Schick Paulchens letzte Überraschung nie angeschaut und scheinbar ignoriert hat. Er hat sie für hochnäsig und herzlos gehalten, sich aber nichts weiter dabei gedacht, bis vor vier Wochen die Bagger und Planierraupen beim Waldeingang aufgefahren
Weitere Kostenlose Bücher