Frau Schick macht blau
Demnächst soll das Kurörtchen dank Fashion-Outlet im idyllischen Kern zwar ein weiteres Disneyland für Wochenendshopper werden, aber kaum zehn Kilometer entfernt liegt das verschwiegene Genfbachtal mit Erlen-, Eschen- und Weidengalerien, Bachauen, blühfreudigen Wildwiesen, seltenen Sumpforchideen und Heuschobern, die sich traumstill zwischen Weißdorn und Hundsrosen wegducken und wie aus der Zeit gefallen zu sein scheinen.
Er hat das Tal vor Jahren einmal zu einem der schönsten Wiesentäler der Eifel erkoren. Bleibt nur zu hoffen, dass es das geblieben ist. Zumindest ist dort endgültig Schluss mit dem Chemie-, Gewerbepark- und Industriegürtel, der Köln von Westen her einkesselt und ihn als qualmender und lodernder Horizont durch die Nacht begleitet hat.
Es ist eine Weile her, dass er hier unterwegs war. Vielleicht sollte er sich Notizen für eine Neuauflage seines Wanderführers machen? Etwa über die reichlich überdimensionierte Pilgerschlafhütte, die ein rühriger Heimatverein am Rand der Lichtung erbaut hat. Sie ist nicht nach Herbergers Geschmack. Er zieht – wenn es die Witterung zulässt und trocken ist – Nächte unter freiem Himmel vor. Zumindest darin ist er seinem inneren Abenteurer heute Nacht treu geblieben.
Herberger öffnet eine Seitentasche seines Rucksacks, um die heutige Strecke anhand seines Outdoorführers zu überprüfen. Natürlich weiß er, wo es langgeht, zumal die rheinischen Jakobswege mittlerweile geradezu obsessiv beschildert und sogar Stromkästen und Ampelmasten mit gelben Muscheln auf blauem Grund bebildert sind, aber er liebt es, seine Wege auf Wanderkarten vorwegzunehmen, so wie er es als Kind geliebt hat, mit den Fingern auf dem Leuchtglobus die Welt zu vermessen, Kontinente zu überspringen und sich ein Leben als rastloser Abenteurer auszumalen.
Allerdings nicht in der Eifel.
Nun, er ist älter geworden und weiß, dass wahre Entdeckungsreisen nicht darin bestehen, ständig neue Landschaften zu suchen, sondern darin, sie mit neuen Augen zu sehen.
Aber nanu? Wo steckt das Büchlein? Nicht im Rucksack. Merkwürdig, er hat gestern noch Wegmarkierungen darin eingetragen und es eingepackt. Nein, anscheinend doch nicht. Na, wenigstens an Powerriegel und Trinkflasche für ein kurzes Frühstück hat er gedacht.
Herberger tritt unter dem bedachten Vorbau des weiß getünchten Turmes hervor, der die Waldlichtung bewacht. Wie er von früheren Recherchen weiß, ist es der verbliebene Turm einer mittelalterlichen Wallfahrtskirche. Sie gehörte zu einem Bauernweiler, der vor Hunderten von Jahren ins Tal verlegt wurde und zu einem gesichtslosen Schnellstraßendorf mit verklinkerten Fachwerkhäusern und donnerndem Schwerlastverkehr verkommen ist. Der Turm krönt den Westhang des Höhenzuges. Im Untergeschoss wird er von drei im Rheinland sehr beliebten heiligen Jungfrauen hinter Panzerglas bewacht. Herberger gönnt ihnen keinen Abschiedsblick.
Er ist nicht in der Stimmung, um wohlwollend über Fides, Spes und Caritas nachzudenken, die hier in Stellvertretung eines heidnischen Göttinnen-Trios für gesundes Vieh und haltbares Erntewetter zuständig sind. Unter anderem. Dass Eifeler Bauernmägde hier über Jahrhunderte um treue Knechte oder die Rückkehr von treulosen Gesellen gebetet haben, interessiert ihn im Moment nicht.
Herberger quert rasch die Lichtung und nimmt zum Frühstück Platz auf einer Bank mit Aussicht auf Rübenfelder und die pappelbestandenen Wiesentriften einer Flussniederung. Am Horizont der Talsenke locken die ersten Höhenzüge der Eifel.
Es tut gut, allein zu sein, still die Platanen zu betrachten, sich zu besinnen, mit einem Powerriegel zu bescheiden und ins Gedächtnis zu rufen, dass man nie so klar denken und so sehr man selbst sein darf wie auf Wanderreisen und vor allem allein.
Nur leider ist er das anscheinend nicht. In der Pilgerhütte regt sich was, und auf dem Parkplatz am Fuß des Hangs öffnet ein Reisebus mit hydraulischem Zischen die Türen. Schwatzlustige Wanderfreunde mit roten Kappen erobern den Hügel. Die Kreissparkasse Euskirchen macht, angeführt von einem Eifeler Heimatkundeexperten, offenbar einen sehr frühen Betriebsausflug. Kühltaschen werden auf Picknicktischen platziert, Thermoskannen aufgeschraubt, die Aussicht ausführlich bewundert.
Herberger erhebt sich eilig, schultert seinen Rucksack und hastet im Laufschritt eine steile Lindenallee Richtung Tal hinab.
29.
Nellys Filterkaffee ist vorzüglich und ganz nach Frau Schicks
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