Frau Schick macht blau
Kampf gegen die Bagger. Sein Deckname ist ›Automarder‹.« Frau Pracht senkt, ohne ihren Redefluss zu unterbrechen, die Stimme. »Nelly konnte ihm sehr schöne Tipps über unscheinbare Kabel geben, die für die Hydraulik der Schaufeln unverzichtbar und mit einem Schnitt durchtrennt sind!«
»Welche Widerstandsgruppe?«, verlangt Frau Schick zu wissen und muss sich setzen.
»Das«, bestimmt Frau Pracht, »erklären wir Ihnen alles bei einem Tässchen guten Bohnenkaffees im ›Gießkännchen‹. Nelly gießt ihn gerade auf. Per Hand. Sie sagt, so mögen Sie ihn am liebsten. Ich habe mein Vereinsheim selbstredend als Kommandozentrale und Kantine zur Verfügung gestellt. Machen Sie sich auf eine gewaltige Überraschung gefasst!«
»Was für eine Überraschung?«
»Eine Überraschung ist eine Überraschung, sonst wäre es keine Überraschung«, feixt die Walküre und klingt ein wenig nach Gertrude Stein und ihrem weltberühmten Vers von der Rose, die eine Rose, die ein Rose ist. Frau Schick fand ihn nie sonderlich einfallsreich oder lyrisch.
Die Walküre greift nach Frau Schicks linkem Wanderschuh, kniet sich hin und will ihr hineinhelfen.
»Lassen Sie das!«, wehrt Frau Schick ab. »Ich bin nicht Aschenputtel. Verraten Sie mir wenigstens, was da vorhin im Wald so entsetzlich geknallt hat!«
Frau Prachts Lächeln verbreitert sich. »Oh, das war Kalle. Er experimentiert ein wenig mit Unkrautex und Zucker.« Sie seufzt kurz. »Knallen tut die Mixtur recht schön, aber die Löcher, die er gesprengt hat, sind bescheiden. Da will er noch nachbessern. Im Verein war er immer für unser Sylvesterfeuerwerk zuständig, es gibt also durchaus noch Hoffnung.«
»Aber weshalb sprengt er Löcher in den Wald?«
»Das erfahren Sie alles im ›Gießkännchen‹«, verspricht die Walküre und zieht Frau Schick vom Stuhl.
28.
Herberger rollt mit geübten Griffen seinen Polarschlafsack ein, wischt Tau von der Außenhaut, presst Luft heraus, wickelt ihn in eine Isomatte und schnallt beides auf seinen Rucksack. Aus einem nahen Tal wehen das Geläut von Kirchenglocken und Verkehrslärm zu ihm herauf.
Es ist acht Uhr und höchste Zeit aufzubrechen, um eine angemessen stramme Tagesetappe zu bewältigen, die ihn in die ersehnte Stille führen soll.
Gestern ist er beim Pilgern trotz freundlich ausgestirnter Nacht nur stotternd und lustlos in Gang gekommen. Sein Zwischenstopp in den verflixten Schrebergärten hat ihn zurückgeworfen und die überschießende Jetlag-Energie verpuffen lassen. Der Streckenbeginn durch das Gewerbegebiet von Hürth war ihm zudem dank seiner Nacht im Polizeigewahrsam sattsam bekannt. Eine heransingende späte Straßenbahn bot die günstige Gelegenheit, der Betonansiedlung von Baumärkten, Parkettanbietern und Bettenlagern gen Westen zu entfliehen. Mit anderen Worten: Er hat gestern ein wenig gepfuscht und am Ende nicht viel mehr als einen Spaziergang über einen Vorgebirgsrücken absolviert.
Über einen Friedhof hat er einen bewaldeten Höhenzug erstiegen, ist vorbei an sauber gestapelten Holzpoltern, verwitterten Heiligenhäuschen mit Feldblumensträußen und flackernden Grablichtern, Pferdekoppeln und Ameisenhügeln zu einer Lichtung gelangt, auf der gelb angestrahlt ein verwaister Glockenturm und sein Gewölbevorbau als Nachtlager lockten.
Für ein wenig Spannung unterwegs sorgten lediglich Käuzchengeschrei sowie Geraschel und Geschuffel im Unterholz. Das recht urwüchsige Waldstück ist für Muffelwild- und Schwarzkittelplagen bekannt.
Nach sechs, sieben Kilometern hatte Herberger genug von seiner Tippeltour und von seinen Gedanken, die hartnäckig um die kellnernde Nelly, Frau Schick und Niklas im Hühnerhut kreisten. Am Ende hat sein überreiztes Gehirn dessen Elfenaugen sogar in einem Brombeerhain entdeckt und den imaginären Knirps über die Holzpolter balancieren lassen, die Kinder bekanntlich magisch anziehen.
Herberger schüttelt über sich selbst den Kopf und wischt seine gestern zum Rückkehrschwur benutzten Finger unwillkürlich an der Wanderhose ab. Er will nicht zurück, sondern endlich voran.
Heute könnte er es bis Bad Münstereifel schaffen. Noch besser darüber hinaus. Er braucht jetzt echte Einsamkeit und zumindest eine Ahnung von Natur, in der ihn nichts bedrängt und alles daran erinnert, dass die Welt ein Ort ist, der entdeckt werden will.
Münstereifel liegt an keiner Durchfahrtsstraße zu größeren Zielen. Es ist ein Ort, in den man wollen muss, um ihn zu erreichen.
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