Frau Schick räumt auf
Gegenteil. Zumindest, wenn es Männer betrifft. Bei den dümmsten Kerlen wird sie lyrisch und vergreift sich sogar bei Shakespeare und Neruda. Aber das passiert ihr nicht noch einmal.
36.
Unter stechender Sonne geht es durch die flachen Weinhügel der Rioja. Das üppige Grün des Baskenlandes und die gestrige Regenwanderung durch Navarra liegen in weiter Ferne. Hier hat es gestern und viele Tage zuvor eindeutig nicht geregnet: Roter Staub wirbelt unter den Wanderschuhen hervor, überpudert nackte Waden und Hosenbeine.
Paolo beantwortet geduldig Fragen über Rebsorten und Weinhandel und erklärt, dass viele Winzer dieses weltberühmten Anbaugebietes die Trauben nach wie vor traditionell ernten: vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang, im Stehen und in gebückter Haltung, weil das Hinknien verpönt ist. Auch von ihren Saisonarbeitern verlangen die Winzer diese Form der Rebenernte. Paolo hat hier in den Semesterferien selbst oft Trauben gepflückt. Für ein paar Euro und Verpflegung am Tag, Seite an Seite mit illegalen Einwanderern aus Ghana, die noch weniger Lohn erhielten. Der unversöhnliche Zorn des jugendlichen Rebellen über diese Ungerechtigkeit ist in seiner Stimme deutlich zu hören.
Frau Schick findet, dass Zorn zu diesem falschen Jesus besser passt als die ständig gutgelaunte Miene. Auch der echte Jesus war ja nicht immer wundermild, kein weichgespülter Gutmensch. Nach allem, was sie in ihrem Leben erlebt hat, kann sie mit einem zornigen Gott viel mehr anfangen als mit einem lieben.
Gestern hat Frau Schick mit Bettina und Nelly nach dem Abendessen noch ein wenig in der Bibel gelesen. Nach Matthäus 7 hat sie in Matthäus 8 einen bemerkenswert rabiaten Satz des Heilands gefunden: »Lass die Toten ihre Toten begraben.« Das befiehlt Jesus barsch einem jungen Mann, der ihm nicht nachfolgen will, bevor er den toten Vater begraben hat.
Es ist eine merkwürdige Stelle, aber irgendwie gefällt sie Frau Schick und geht ihr nicht aus dem Kopf. Tod ist Tod, und Leben ist Leben, so versteht sie das, und dass man die Toten ruhen lassen darf und nicht vor der Zeit und zu lange bei ihnen verweilen muss. Das hat sie getröstet. Immerhin ist sie zunehmend weniger Theklas wegen auf dem Camino unterwegs und hat am Wandern und an anderen Menschen Gefallen gefunden. Darum hat sie sich schon ein winziges bisschen schuldig gefühlt.
Bettina hat die Stelle ganz anders verstanden, nämlich so, dass mit den Toten, die man bei den Toten lassen soll, alle unlebendig gewordenen, geistig erstarrten und seelisch verhärteten Menschen gemeint sind, die an nichts mehr glauben wollen und ganz im Außen verhaftet sind. Besessen vom Besitz oder davon, einen Menschen zu besitzen. Aber das ist Frau Schick entschieden zu spirituell. Nelly hingegen fand Bettinas Deutung hinwiederum ganz einleuchtend und hat ihr zugestimmt.
Jedem Tierchen sein Pläsierchen, denkt Frau Schick großmütig, sie hat schließlich auch ihre Vorlieben. Etwa für die Feen- und Gruselmärchen der ollen Schemutat, bei denen man das Fürchten lernte. Die haben ihr gegen die echten Schreckgespenster im Krieg geholfen. Ja, durchaus. Sie hat immer gewusst, dass die Welt auch Hölle ist.
Sie richtet ihren Blick wieder nach vorn zum Wanderführer.
Paolo wird wie die Landschaft immer offener. Er beantwortet sogar Bettinas Fragen über sein Leben in Galizien und die unfreiwillige Massenflucht der jungen Menschen aus einem Landstrich, den sie lieben, der sie aber nicht ernähren kann, obwohl er grün, fruchtbar und fischreich ist wie kaum eine andere Region Spaniens.
»Kann Galizien denn nicht einmal einen guten Arzt ernähren?«, will Bettina wissen.
»Einen guten schon«, stößt Paolo schroff hervor und beschleunigt unvermittelt den Schritt. Bettina bleibt klugerweise zurück.
»Herrjemine, unser Jesus läuft also auch vor was weg!«, murmelt Frau Schick, als sie zu Bettina aufschließt. »Wir sind ja wirklich ein Haufen von Bekloppten.«
Bettina lächelt. »Wie Sie sehen, sind die Grenzen zwischen Normalität und Wahnsinn fließend.«
»Ich bin die Letzte, die das Gegenteil behaupten würde«, empört sich Frau Schick und schweigt ein wenig vor sich hin.
Die Strecke steigt sanft an, wird zum Nadelöhr. Spitzer Schotter macht den Weg immer mühseliger, erst recht, als sich die Wandergruppe das Wegstück mit von hinten heransausenden Fahrradpilgern teilen muss. Quijote mag die Radfahrer und begleitet sie kläffend den Hügel hinauf. Frau Schick sind sie lästig.
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