Frau Schick räumt auf
Doch es geht, ganz in Pilgermanier, höflich und rücksichtsvoll zu. Die Radfahrer steigen ab und schieben, um der alten Dame Platz zu lassen. Bis auf eine einsame Ausnahme.
Kurz vor der Hügelkuppe rast unter wildem Klingeln ein Mountainbiker mit dem Ruf » Give way, please!« – was Nelly erschrocken mit »Weg da!« übersetzt – auf Frau Schick zu. Der Fahrer muss dann doch scharf abbremsen, weil Frau Schick zwar gern Befehle gibt, aber selbst ungern welche befolgt. Quijote steht Frau Schick hilfreich zur Seite und stellt sich quer zum Weg.
So hat der eilige Fahrradfahrer keine Wahl: Bevor er wieder anfahren darf, muss er sich einem Verhör unterziehen. »Warum um Himmels willen steigen Sie nicht ab und schieben?«, fragt Frau Schick streng.
»Weil ich dann den richtigen Schwung und meinen Rhythmus verliere«, informiert er sie unwillig auf Englisch.
Aha.
Frau Schick will noch viel mehr wissen, unter anderem, warum sein Hinterreifen eiert.
»Bordsteinkante«, übersetzt Nelly die unwirsche Antwort des Delinquenten, der sichtlich ungeduldig ist und stur an ihr vorbei nach vorn schaut.
Frau Schick beendet ihr Verhör mit einer Strafpredigt, zu der sie ihre spitzen Wanderstöcke in die Reifen und zwischen die Radspeichen des Mountainbikes steckt, damit der junge Mann nicht einfach abhauen kann, bevor sie fertig ist.
Grimmig lässt der Verkehrssünder alles über sich ergehen, bis Frau Schick sein Rad und Quijote den Weg freigibt. Bergab gibt der Radler – anscheinend unbelehrt – doppelt Gas. Das allerdings könnte auch an Quijotes fröhlicher Verfolgungsjagd liegen.
Wenig später führt der Camino sie in ein kleines Dorf. Frau Schicks Jaguar parkt verlassen unter einem ausladenden Walnussbaum. Paolo lädt zur Besichtigung der Pfarrkirche ein.
»Die sieht aber nicht nach etwas Besonderem aus«, legt Hildegard, die beim Wandern sehr still war, leisen Protest ein.
»Warten Sie ab, Señora, Sie werden gleich erleben eine von meine liebste Wunder auf die Camino«, verspricht Paolo: »Pedro Fadrago.«
»Ist das ein Heiliger?«, fragt Hildegard.
» No« , antwortet Paolo, »aber eine göttliche Schlitzohr.«
»Und eine lebende Legende«, ergänzt Herberger, der wie aus dem Nichts hinter Paolo auftaucht. »Ich habe Fadrago vor etwa siebenundzwanzig Jahren kennengelernt. Wie alt ist er inzwischen?«
» Noventa, neunzig Jahre«, sagt Paolo knapp.
»Ah, da kommt er«, sagt Herberger und steigt die ausgetretenen Stufen der Kirche hoch.
Vor dem Portal und einer windschiefen Holztür warten bereits einige Pilger, darunter der Radsünder, sehnsüchtig auf den krummen Greis, der auf Pantoffeln und mit einem gigantischen Schlüsselbund in der Hand herbeischlurft und roten Staub aufwirbelt. Er begrüßt Paolo mit einem fast zahnlosen Lächeln und herzlichem Schulterklopfen, dann stellt er sich den anderen als Pedro Fadrago vor. Jeden Wartenden fragt er nach seinem Namen. Er muss die Hand hinters Ohr legen, um alles zu verstehen, und erst wenn er wirklich verstanden hat, nickt er zufrieden.
Der dreiste Fahrradpilger zeigt Anzeichen äußerster Ungeduld. Señor Fadrago widmet sich ihm mit weiteren Fragen zu Herkunft und Familienstand und betrachtet das am Pilgerbrunnen abgestellte Mountainbike. Der junge Mann ist Engländer und versteht kein einziges Wort. Nelly übersetzt.
Erst nachdem John erklärt hat, er stamme aus Manchester, sei Single, arbeite als Anlageberater in London, habe nur drei Wochen Zeit für den Camino und wolle unbedingt den Cebreiro-Pass schaffen, weil der radtechnisch die größte Herausforderung sei, scheint Señor Fadrago zufriedengestellt zu sein. John hingegen ist offensichtlich am Ende seiner Kraft.
Er muss noch eine Frage Herbergers beantworten. »Wie lange fahren Sie schon Mountainbike?«
Müde erklärt John, er habe das Hobby vor einem Jahr für sich entdeckt, nach einem vorübergehenden Burnout wegen der Bankenkrise. Jemand habe ihm der abwechslungsreichen Streckenprofile wegen den Jakobsweg empfohlen. »Meine persönliche Bestleistung liegt bei achtzig Kilometern an einem Stück. Da bin ich morgens um vier mit Grubenlampe an der Stirn los«, berichtet er atemlos, als habe er die Strecke gerade erst bewältigt. John will nämlich dringend wieder ganz fit werden und jetzt möglichst schnell weiter.
Es folgt jedoch eine weitere Geduldsprobe. Umständlich und mit der Gemächlichkeit eines Greises, der sein Leben in diesem Dorf verbracht hat, steckt Pedro Fadrago einen riesigen
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