Frau Schick räumt auf
Ernst-Theodor und ich uns für gewöhnlich auch nichts. Dafür habe ich mich heute Morgen besonders gefreut, dass Ernst-Theodor mich mit einem so schön verzierten Stein überrascht hat. Er lag direkt vor unserer Zimmertür.« Sie stupst Ernst-Theodor in die Seite. »Du kleiner Geheimniskrämer.«
Der Geheimniskrämer wird rot und schlägt die Augen nieder.
Nelly setzt klappernd ihre Tasse ab, Herberger beugt sich interessiert vor. »Ein Stein?«, fragen beide wie aus einem Mund.
»Oh ja«, sagt Hildegard eifrig und zieht eine schwarze Kugel mit feinen weißen Farbbändern aus ihrer Hosentasche. »Der sieht nicht nach viel aus. Aber der Spruch darauf ist unendlich tiefsinnig.« Sie zieht die Stirn kraus und liest vor. »›Wenn die Liebe unermesslich ist, wird sie sprachlos.‹« Triumphierend schaut sie in die Runde. »Ist das nicht romantisch und so ganz mein Ernst-Theodor?«
»Das ist Khalil Gibran, ein libanesischer Philosoph und Spiritualist«, sagt Bettina.
»Ach«, freut sich Hildegard und strahlt ihren Mann an, »libanesische Philosophen kennst du auch?«
Ernst-Theodor Gesichtsröte tendiert ins Violett, er hüstelt verlegen. »Liebes … Ich meine, Hildegard, ich habe dir schon mehrfach gesagt, dass … also der Stein und alles nicht von mir stammt.«
»Aber die Idee! Sei doch nicht so bescheiden«, neckt Hildegard ihren Gatten und sonnt sich in ihrem Triumph. »Na ja, bei dem Spruch bietet es sich natürlich an, nicht lauthals damit herumzuprahlen. Wenn die Liebe unermesslich ist, wird sie sprachlos. Das sagt doch alles. Und das nach dreißig Jahren! Heute ist nämlich unser Hochzeitstag.«
»Ach wirk …«, beginnt Ernst-Theodor verblüfft und wirft seine Tasse um, weil sich eine Wanderstockspitze in seine rechte Trekkingsandale bohrt.
Ein unbehagliches Schweigen senkt sich über die Gruppe. Nur der stille Hermann lächelt. »Dreißig Jahre. Bei uns sind es dreiundfünfzig.«
»Fünfundfünfzig« korrigiert Martha, rutscht verlegen auf ihrem Stuhl hin und her und sieht aus, als wolle sie noch mehr sagen, um die peinliche Stille zu übertönen.
»Der Spruch sagt wirklich alles«, springt Frau Schick ihr bei. »Hildegard, man muss Ihnen zu Ihrem Mann gratulieren. Den Stein sollten Sie ab jetzt ganz nah am Herzen tragen. Das macht man doch mit Heilsteinen so, oder, Bettina? Sie kennen sich doch aus, was ist das für ein Stein?«
»Ein Onyx«, sagt Herberger rasch und greift nach der Kugel. »Eine Varietät des Chalcedons, der wiederum eine Varietät des Minerals Quarz ist. Die weiß-schwarze Bänderung …«
Nelly verdreht die Augen und hört weg, während Herberger sich in seinem Vortrag verliert. Mit derartigen Informationen hat er sie auf der völlig nutzlosen Extratour ins Tal der Steinmännchen genug genervt. Sie hat buchstäblich auf Granit gebissen. Jeder Frage nach seiner Vergangenheit und speziell nach Australien ist Herberger mit einem Exkurs in die Tiefen der Gesteinskunde ausgewichen. Er klang den ganzen Weg über in etwa so, wie sie gestern geklungen haben muss, als sie die aufdringliche Hildegard mit Informationen über Motorentechnik auf Distanz gehalten hat.
Und auf dem Weg hierher im Auto hat er ihr dann mit einem Zitat des christlichen Mystikers Meister Eckhart den Mund verboten. »Verehrte Frau Brinkbäumer, da wir auf dem Jakobsweg unterwegs sind, erlauben Sie mir einen kleinen Sinnspruch: ›Nichts im Universum gleicht dem Göttlichen so sehr wie das Schweigen.‹ Wie wäre es, wenn Sie es einmal damit versuchen, während ich mich aufs kontemplative Fahren konzentriere.«
Nelly hat sich besonders geärgert, weil ihr der Spruch gefiel und sie fatal an ihr bislang schönstes Wandererlebnis, nämlich den Schweigemarsch mit Paolo, erinnert hat. Zu dem passt er ja, aber zu Herberger? Der Angeber gibt gerade wieder den geologischen Dampfplauderer.
»Zur Familie der Quarzminerale zählt man auch …«
»Sind Quarzminerale wertvoll?«, wagt Hildegard Herberger mit leicht belegter Stimme zu unterbrechen.
Nelly horcht auf und bedenkt Herberger mit einem lauernden Blick.
Der verzieht kurz den Mund. »Onyx ist als Schmuckstein sehr beliebt. Man stellt gern Manschettenknöpfe daraus her.«
Frau Schick hüstelt unvermittelt in ein Taschentuch. Sie hustet verdächtig anhaltend.
Herberger runzelt kurz die Stirn, fängt sich einen strafenden Blick seiner Chefin ein und beeilt sich fortzufahren. »Natürlich nur Manschettenknöpfe für sehr festliche Gelegenheiten. Aus Onyx werden
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