Frau Schick räumt auf
später verstanden hat, dass die väterliche Tracht Prügel ganz und gar von Herzen kam.
Ja, manchmal kann Liebe verdammt wehtun. In Frau Schicks Augen tut sie das meistens, wenn nicht immer.
»Haben Sie schon einen Plan, wo wir heute übernachten?«, reißt Bettina sie mit einem erstaunlichen Gespür für den richtigen Zeitpunkt aus den düsteren Gedanken.
»Selbstverständlich! Ich habe mich gestern bei einem äußerst fröhlichen jungen Pilgergrüppchen informiert. Die schwärmten von einem Ort, der irgendwie nach ›lustig wie Bolle‹ klang. Paolo kennt ihn. Muss ein herrlich einsames Fleckchen sein.«
»Und wo ist das?«
»Nicht mehr weit, nehme ich an. Der Ort liegt sechs Kilometer hinter dem Hörnerkaff mit Kamin. Paolo will Bescheid sagen.«
»Hörnerkaff?«
»Na dieses Dorf, das wir eben verlassen haben.«
»Ach, Sie meinen Hornillos del camino.«
»Sag ich doch. Ich kann mir all diese Namen nur mit Eselsbrücken merken.«
»Eine hervorragende Idee«, lobt Bettina lachend. Sie kommt langsam wieder in Schwung, zumindest in Sachen allgemeine Menschenliebe. Und in Sachen Hundeliebe ebenso. Sie liebkost mit Hingabe Quijote, der sich ihnen nach einem ausgedehnten Feldausflug und erschöpfender Krähenjagd wieder anschließt. Die Jagd war erfolglos, der Hund braucht Trost und ist damit bei Bettina goldrichtig.
Knapp eine Stunde später erklingt endlich Paolos wohlvertrautes »Guck mal«. Er deutet auf ein kleines Wäldchen und einen Abzweig, der links ins Feld führt. Die Oase von San Bol. Er erzählt von einer Wunderquelle im Wäldchen, die gar kein Wunder ist und trotzdem bei Pilgern sehr beliebt, weil sich ein gewiefter Pilgerwirt vor wenigen Jahrzehnten eine Legende dazu ausgedacht hat, um den Betrieb in Schwung zu bringen. Ein Fußbad im Wasser von San Bol, so die moderne Mär, soll bis Santiago vor Blasen schützen.
»Wenn das ein Märchen ist, müssen wir da ja wohl nicht hin«, murrt Ernst-Theodor. »Ich bin dafür, weiterzugehen.«
»Aber da kommt doch Herberger«, wendet Hildegard ein. »Der hat über San Bol sicher viel Interessantes zu berichten.« Entschlossen und federnden Schrittes stapft sie ihrem Helden entgegen, der aus dem Wald auftaucht. Ernst-Theodor folgt knurrend, der Rest der Truppe dankbar und in Hoffnung auf eine Schattenpause.
»San Bol«, erläutert Herberger auf dem Weg zum Wäldchen, »ist, besser: war der Name eines Klosters und eines Dörfchens, das von seinen Bewohnern um 1500 aufgegeben wurde. Möglicherweise wegen einer Epidemie oder weil die Judenverfolgung die Einwohner bedrohte. Nur wenige bauliche Reste erinnern heute an die Existenz von San Bol, aber die Quelle und eine in den Neunzigerjahren errichtete Herberge locken heute noch vereinzelte Pilger an.«
Die Gruppe taucht in den Schatten eines lichten Wäldchens ein. Am Rand eines saumschmalen Pfades erreichen sie ein gemauertes Becken, das schwimmbadblau gestrichen ist. Zwei Pilger waschen im Überlauf erst ihr Blechgeschirr, dann ihre Füße und Socken.
»Igitt!«, entfährt es Hildegard.
»Wieso?«, fragt Frau Schick. »In umgekehrter Reihenfolge wäre es doch weit unappetitlicher. Ich finde es sehr, sehr schön hier. Ganz ideal für eine Übernachtung.«
Ihr Blick sucht eine putzig wirkende Herberge aus Natursteinen und blassblau gekälkten Mauern, auf denen eine selbstgemalte Jakobsmuschel prangt. Auf dem Dach eines winzigen Nebengebäudes thront eine gemauerte Kuppel, die aussieht wie ein Sandkuchen, den ein Kind mit Förmchen draufgebacken hat. »Wirklich einladend«, urteilt Frau Schick. »Herberger, laden Sie unseren Proviant aus!«
Herberger unterbricht seinen Vortrag über die eisigen Temperaturen des Quellwassers, das im harten Winter der Meseta sogar gefrieren kann. Er wirft Frau Schick einen verärgerten Blick zu. »An der Herberge von San Bol scheiden sich die Geister, gnädige Frau.«
»Ach ja?«
»Ach ja! Für die einen ist diese Herberge ein letztes Paradies verlorener Hippieträume – es ging hier lange sehr locker zu, die durchgefeierten Nächte bei Lagerfeuer und Musik sind Legende. Für andere ist diese Unterkunft ein Nest für Freaks und hartgesottene Spinner. Die zuständige Gemeinde hat die Herberge mehrfach geschlossen, vor allem nachdem eine Gruppe Drogensüchtiger das Gebäude monatelang besetzt und Pilger belästigt hatte.«
»Das muss ich mir näher anschauen«, entscheidet Frau Schick, die von Herbergers Ausführungen alles andere als abgeschreckt ist. »Lagerfeuer
Weitere Kostenlose Bücher