Frau Schick räumt auf
Orden dank der Renaissance der Jakobswallfahrt vor zehn Jahren wieder eine Klostergemeinschaft gegründet. Vier Brüder leben hier, und viele, viele Pilger kommen. Rabanal, das spürt Nelly, ist für den Mönch die ganze Welt und voll von Wundern. Er plaudert von Königen und Rittern, die Rabanal passiert haben, und von einem berühmten Sohn des Dorfes, Señor Canseco. Der hat der Pfarrkirche im Jahr 1882 eine besondere Uhr gestiftet. Und er hat sie nicht nur gestiftet, sondern selbst gebaut, weil er der Erfinder der gewichtslosen Uhr war.
Uhren ohne Gewicht. Wie schade, dass Hermann das nicht hören kann, denkt Nelly. Sie wird ihm davon erzählen. Ja, das wird sie.
Der Mönch verabschiedet sich. Beinahe, lacht er, hätte er die Mittagsmesse verpasst.
Nelly fragt ihn noch nach dem Weg zur Pfarrkirche. Sie will die Uhr sehen, damit sie sie Hermann irgendwann einmal beschreiben kann. Das Mittagsgeläut im Turm der Einsiedlerkapelle hebt an, der Mönch eilt mit fliegender Kutte davon. Die Störche aber bleiben sitzen. Nelly zieht Javier zur Pfarrkirche.
»Das ist nicht unsere Richtung!«, protestiert Javier.
Javiers Paradies kann warten, entscheidet Nelly. Sie haben heute neun oder zehn Wanderetappen einfach übersprungen. Das ist zu viel und zu rasant. Da kommt ihre Seele nicht mit. Die erreicht gerade Rabanal und beginnt sich dort wohl zu fühlen.
»Bei Foncebadón ist es weit schöner«, lockt Javier. »Du willst doch wandern. Nun komm schon, der Weg durch die kantabrischen Berge ist atemberaubend.«
In der Tat, das ist er. Und heiß ist er auch, höllisch heiß. Heißer als die Meseta, wie Nelly nach drei Wegkilometern durch beeindruckende Berglandschaft feststellt. Sie hat ihren Willen zwar durchgesetzt und die Pfarrkirche eingehend besichtigt, aber dafür legt Javier jetzt ein strammes Wandertempo vor. Ihre Wasserflasche ist längst leer. Javier scheint zu jener Wanderfraktion zu gehören, die die Gipfel mit wütender Energie bezwingt. Nun, ein behaglicher Spazierschritt ist hier tatsächlich nicht empfehlenswert, Abbruchkanten, Abgründe, Felsgestein und Passagen, die sie kletternd überwinden müssen, gestatten weder Schlendrian noch Schlendergang.
Immer steiler geht es aufwärts. Sie laufen über nur vage erkennbare Pfade, an der Baumgrenze vorbei und durch rot und gelb verbrannte Höhenzüge. Macchie, purpurfarbene Disteln und gelber Ginster krallen sich ins Gestein. Und zähe Pilger. Die haben sich höchst wundersam vermehrt und keuchen schwer, weil sie den Anstieg weit vor Rabanal begonnen haben. Die klugen erklimmen die Höhe mit Bedacht und pausieren häufig, um Wasser zu trinken. Daran, dass der Weg durchaus gefährlich ist, gemahnt ein Kreuz am Wegesrand. Es erinnert an einen Pilger, der hier tot zusammengebrochen ist.
Nelly wird im Angesicht des Kreuzes sehr still. Es ist nicht das erste seiner Art, das sie am Weg gesehen hat. Auch das ist der Camino.
»Das ist eine sehr beliebte Etappe«, ruft Javier von vorn. »Gut fürs Geschäft!«
Was haben Geschäfte mit seinem Paradies zu tun?
»Wart’s ab«, lächelt Javier.
Nelly wartet ab und verliert sich in Gedanken. Javier hat ihr im Auto erzählt, dass vor allem Paul Coelho und sein legendäres Buch vom Jakobsweg zur Popularität dieses Wegabschnitts beigetragen haben. Es geht um seine Geschichte von den wilden Hunden, die Coelho hier zum Kampf gegen das Böse gefordert haben sollen: wahre Höllenhunde, von Satan entsandte Gegner aller Krieger des Lichts. Mit so etwas hat es Nelly ja nun nicht so sehr. Das klingt für sie mal wieder nach Templern und einer Weltverschwörung des Bösen.
Kurz vor dem legendären Bergdorf Foncebadón bietet ein fliegender Händler in einem nachgemachten Kettenhemd und Ritterhelm Pilgerstäbe feil, die ganz gefährlich nach Knüppel und Totschläger aussehen. Pfefferspray hat er auch im Angebot und Petrus-Medaillen, die gegen Tollwut schützen sollen. Wer mag, kann sogar selbstgeschnitzte Templerschwerter bei ihm erstehen und Kettenhemden.
Javier begrüßt den Mann mit einem kurzen Nicken. »Und, wie laufen die Geschäfte?«
Der Mann zuckt grinsend mit den Schultern. Offensichtlich laufen die Geschäfte dank der angeblichen Gefahr durch die Höllenhunde gut.
»Ich hoffe, das meintest du vorhin nicht mit guten Geschäften«, wispert Nelly und betrachtet skeptisch die in den Bäumen baumelnden Holzschwerter.
Javier schüttelt lachend den Kopf. » No.« Der Händler sei ein Spinner und Freak, aber eben ein
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