Frau Schick räumt auf
ihrem tiefsten Punkt auch mittags im Schatten liegt. Javier zerteilt mit seinem vorhin erstandenen Pilgerstab Strauchwerk, bahnt sich und Nelly einen Weg. Auf einer Lichtung bleibt er stehen. In ihrer Mitte steht ein Steinhaus ohne Dach, vor ihm ein gemauerter Brunnen und vor dem Brunnen ein krummer Tisch.
»Bienvenido, Nelly«, hat jemand in kraftvollen Farben auf einen herabhängenden Schlagladen des Hauses gepinselt. Jeder Buchstabe sieht aus wie ein hübsches Fabeltier.
Nelly hat kaum Zeit, die Malerei und das Haus anzuschauen.
»Das werde ich demnächst abreißen«, sagt Javier. »Komm mit!« Er zieht sie hinter das Haus, wo noch mehr Urwald die Sicht versperrt. »Schau hier! Das machen wir alles weg. Und dann bauen wir. Hier ein Restaurant, da die Herberge. Zehn Betten. Mehr stört und lenkt vom Wesentlichen ab. Ich möchte malen und ein Atelier einrichten.«
Javier spricht und spricht, ohne innezuhalten oder Nelly die Möglichkeit zu geben, zu antworten. Die Preise wird er so gestalten, dass nicht kommen kann, wer will, schon gar nicht in Massen. Er hat genug Kontakte zu Menschen, die bereit sind, sehr viel zu zahlen, wenn ihnen echte Einsamkeit auf höchstem Niveau garantiert wird, sagt er. Darum hat er das gesamte Grundstück und den Wald gekauft.
»Für uns«, sagt er, »und allein für Menschen, die es wert sind und Schönheit wirklich zu schätzen wissen.«
So entflammt und begeistert hat Nelly ihn noch nie gesehen, so ganz und gar überzeugt. Von sich. Sie schüttelt den Kopf, will etwas sagen, kommt aber wieder nicht dazu.
Javier wechselt vom Visionären zum Vernünftigen. Herr Viabadel, sein Patenonkel, hat ihm für den Grundstückskauf einen Kredit gegeben. »Er hat mich schon immer sehr gemocht«, erklärt Javier leichthin. »An der Bar in Bilbao hatte ich ihn bereits beteiligt. Tja, und diesmal, diesmal geht die Sache gut. Der Camino ist krisenfest, die Pilgerzahlen steigen jährlich. Es ist noch nicht zu spät, in das Geschäft einzusteigen.« Einen Kredit für die Baumaßnahmen hat er als Erbe der Bodegas Tosantos ebenfalls in Aussicht.
»Mein Name ist von so unschätzbarem Wert wie die Legende vom heiligen Jakobus«, schwärmt er. »Wir werden ein Stück Camino retten und kreieren, das nicht von gewöhnlichen Idioten und gutgläubigen Schafen zertrampelt werden kann. Hier können wir all meine und deine Träume verwirklichen. Du brauchst nur deine Übersetzungsagentur in Deutschland zu verkaufen. Dein Anteil kostet nicht viel. Vielleicht hat dein Exmann Kontakte zu TV-Leuten, die unser Refugio bekannt machen können. Schauspieler, Filmleute … Was meinst du?«
50.
Frau Schick schüttelt unwillig den Kopf. Herrje, in diesem neoschicken Hotel sind sogar die Bonbons durchdesignt. Es gibt sie in Würfel- oder Pyramidenform. Rund wäre ihr lieber, aber immerhin verkürzen die Bonbons die Wartezeit bei der Schlüsselvergabe. Frau Schick lutscht kantiges Lakritz – sie ist nicht so fürs Fruchtige –, und Bettina hat anscheinend Himbeergeschmack erwischt. Gegen Erschöpfung hilft beides nicht, und die Klimaanlage jagt ihnen Kälteschauer über die bloßen Arme.
»Teuer mag dieser Kasten ja sein, aber behaglich ist er nicht«, bemerkt Frau Schick fröstelnd.
Bettina zieht ihre Strickjacke aus und legt sie Frau Schick über die Schultern. »Erkälten Sie sich besser nicht«, rät sie.
Nach der Stille der Meseta, den verträumten Klöstern und Kirchen und erst recht nach ihrer Nacht in den Ruinen von San Anton waren die industriellen Außenbezirke Leóns ein Kulturschock. Die Gruppe ist müde und möchte möglichst schnell auf die Zimmer. Dennoch verkündet Paolo mit einem einleitenden »Guck mal« das Abendprogramm. Um neunzehn Uhr – also in knapp einer Stunde – ist eine Besichtigung der Kirche von León mit einem örtlichen Führer geplant. Anschließend besteht die Möglichkeit, eine Klosterbibliothek zu besuchen, die unter dem Schutz von San Isidoro, dem Patron der Bücher und neuerdings auch des Internets steht. Paolo verspricht beeindruckende Glasfenster und herrlich gemalte Folianten, eine Gruft mit Rittergräbern und ein Abendessen unter freiem Himmel mit Blick auf die Kathedrale.
»Man kann das mit den Kirchenbesuchen auch eindeutig übertreiben«, murrt Frau Schick.
Hildegard verlangt eine Führung mit Herberger. »Der hat mir schon vor Tagen die Kirchenfenster mit den roten Reitern in der Rüstung des Santiago-Ordens ganz wundervoll beschrieben«, schwärmt sie.
Paolo
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