Frau Schick räumt auf
ihn je groß zu beachten.
Scheu betrachtet Nelly Herbergers verschlossene Miene. Kein Wunder, dass er mit ihr nicht einmal mehr über Leitfossilien sprechen möchte. Der ahnt sicher, wie viel Schlechtes sie von ihm gedacht hat.
Nach dem Kaffee geht es weiter durch eine einsame Landschaft, die im Winter höchst unwirtlich sein muss, weshalb sie kaum besiedelt ist. Nach fünf weiteren Kilometern schmerzen und brennen Nellys Waden. Bergab tun sie besonders weh. Sie schleppt sich mit zusammengebissenen Zähnen weiter, bis Herberger entscheidet, dass Mittagspause ist. »Ich gehöre nicht zu den Verfechtern der Idee, dass man sich den Jakobsweg erkämpfen und ihn bezwingen muss«, sagt er. »Man darf ihn auch genießen.«
Unter einem Olivenbaum breitet er den Daunenschlafsack aus. Wortlos bietet er ihr einen Platz an, den Quijote dankbar besetzt. Herberger scheucht ihn zurück aufs Gras, dann packt er Käse aus und Brot.
Nelly bekommt kaum einen Bissen runter, sie möchte sich lieber ausruhen. Sie schiebt sich ihren Rucksack unter den Kopf und legt sich auf die äußerste Kante der federweichen Unterlage. Herberger streckt sich aus und verschränkt die Arme im Nacken.
Zwischen den Hartgräsern und Krautbüscheln sirrt und summt es. Über ihnen flirren silbern die Blätter des Olivenbaums. Herrlich friedlich klingt das in Nellys Ohren, geradezu ideal, um einzudösen. Aber das kann Nelly an der Seite eines Fremden nicht. Dösen ist für sie etwas sehr Intimes, beinahe intimer als Sex. Getrieben von unbändiger Lust übereinander herfallen, das kann jeder. Aber einfach so miteinander eindösen, das ist schwierig. Da liefert man sich einander aus, und wer weiß, wie sie beim Schlafen aussieht. Manchmal schnarcht sie sogar, sagt Becky, nicht sehr laut, wahrscheinlich in etwa so wie … Herberger!
Der Mann hat wirklich die Ruhe weg.
Na, was der kann, kann ich auch, denkt Nelly und schließt die Augen. Sie kann es tatsächlich: einfach schlafen.
Na, endlich! Herberger linst kurz unter dem rechten Augenlid zu Nelly hinüber. Hat er sich doch gedacht, dass sie bei Tageslicht und unter freiem Himmel eine ganz Schüchterne ist und schlecht entspannen kann. Er hat genug Frauen neben sich einschlafen sehen, um das beurteilen zu können, auch hier am Jakobsweg und in den kantabrischen Bergen. Die meisten haben beim Einschlafen gelächelt.
Nelly lächelt nicht. Die runzelt die Stirn, ballt die Hände im Schlaf zur Faust und kneift die Augen fest zu. Das könnte an der Haarsträhne liegen, die ihr der Wind zwischen die Wimpern bläst. Herberger streicht sie vorsichtig weg.
Sieh an, jetzt lächelt sie und schmatzt ein bisschen. Sieht sehr unschuldig aus. Herberger muss grinsen. So eine schlägt einen Mann mit dem Kreuz eines Athleten mal eben k. o. Mit einem Pilgerstock. Imponierend.
Nelly rollt sich zur Seite und verschränkt die Arme fest vor ihrem Oberkörper. So, als müsse sie sich selbst umarmen oder etwas ganz Kostbares schützen. Die wahre Nelly, glaubt Herberger, an die sie keinen heranlassen will. Ja, man sollte Frauen wirklich erst einmal beim Schlafen beobachten, bevor man … Bevor man was?
Nein! Solche Eskapaden hat er nun wirklich hinter sich. Erst recht am Camino. Und die Folgen dieser Eskapaden haben ihn in den letzten Tagen mehr Nerven gekostet als damals manche Liebelei an Manneskraft. Damit ist er endlich wieder beim eigentlichen Grund dieser Reise angekommen. Und in einer Sackgasse. Das Wandern hat ihn nicht wirklich vorangebracht und strengt – dank Frau Schicks und Nellys Eskapaden – enorm an. Er ist wirklich keine fünfundzwanzig mehr. Am besten er schläft jetzt tatsächlich eine Runde.
Und das tut er, ziemlich fest sogar, bis ihn ein Schnarchen aufstört und sich eine warme Hand schwer auf seine Brust legt. Und das mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit, geradezu besitzergreifend. Man sollte Frauen wirklich beim Schlafen beobachten, wundert sich Herberger benommen.
»Ich würde gerne weitergehen«, sagt eine Stimme über ihm.
Herberger öffnet die Augen. »Wie?«
Quijote seufzt auf und zieht die Pfote weg. Nelly steht mit gepacktem Rucksack daneben und schaut auf ihn herab.
Neun Kilometer später erreichen sie das steinalte Bergnest El Acebo. Alte Frauen und Männer hocken auf Holzbalkonen oder vor niedrigen Türen, um Pilgerstäbe, Kürbisflaschen und Muscheln feilzubieten. Sehr viel mehr scheint nicht zu tun zu sein.
Die greise Balkongemeinde feuert das Pilgerduo mit heiseren Ultreia!
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