Frau Schick räumt auf
-Rufen an. Auch das scheint zu ihrem Tagesgeschäft zu gehören.
»Gott sei mit euch. Ihr geht den Weg auch für uns«, lobt eine Greisin und bekreuzigt sich mit einem zahnlosen Lächeln. Herberger dankt und kauft ihr einen Pilgerstab ab, einen sehr schlanken aus Olivenholz. Er schenkt ihn Nelly und lässt Javiers ungeschlachten Knüppel bei der alten Frau zurück. Die freut sich über das hervorragende Feuerholz und gratuliert Nelly zu ihrem umsichtigen und großzügigen Lebensgefährten. » Buen camino.«
Eine schräge Strafpredigt von Frau Schick wäre Nelly jetzt wirklich willkommener. Noch schöner wäre freilich eine von Bettinas weichen, alles verzeihenden und alles verstehenden Umarmungen. Verdammt, sie ist noch immer die Alte. Sie will für nichts und wieder nichts geliebt werden. Selbst für ihre größten Dummheiten. Und ganz heimlich möchte sie einfach weiterlieben wie bisher. Es hat sich ja jedes Mal ganz echt angefühlt, auch wenn es das nie war. Und so sind am Ende für sie nur Enttäuschung, Unglück und ein bemerkenswert hässlicher Hass übriggeblieben.
Mit letzterem malt sie sich gerade Javiers Veilchen aus, in Rot und Grün und Blau und tiefstem Violett. Nein, so viel Missgunst, Groll und Schadenfreude kann man wirklich nicht gern haben, denkt Nelly und seufzt leise. Als sie hinter El Acebo den Jaguar erreichen, will Nelly lieber weitergehen – obwohl ihre Waden bleischwer sind und heftig schmerzen. Sie möchte laufen, bis jeder Muskel taub ist, auch der, der in ihrer Brust so nutzlos schlägt.
»Allein oder mit Quijote?«, fragt Herberger.
»Mit Ihnen«, sagt Nelly, ohne nachzudenken.
Herberger zögert einen Augenblick lang. Dann legt er ihr beide Hände auf die Schultern und schüttelt den Kopf. »Das ist keine gute Idee, Nelly«, sagt er. »Für derartige Bäumchen-wechsle-dich-Spiele bin ich zu alt, und Sie sollten sich zu schade dafür sein. Ich bin ein noch größerer Mistkerl als Ihr letzter Sonnyboy.«
Es zuckt kurz in Nellys Hand, aber nein, das hatte sie gestern schon, und sie will es sich nicht zur Gewohnheit machen, Männer zu verhauen. Nein, das will sie nicht. Darum schüttelt sie heftig den Kopf.
»Nelly, ich meine es ehrlich. Sie sind eine reizvolle Frau, und ich bin ein Mistkerl. Wenn Sie mir nicht glauben, fragen Sie …«
Herbergers Handy klingelt, er nimmt die Hände von Nellys Schultern, zieht es heraus und drückt auf Empfang. »Paolo?«
Er verschwindet, um in Ruhe telefonieren zu können.
Wo eben noch Herbergers Hände gelegen haben, brennen Nellys Schultern, aber sie brennen längst nicht so heiß wie ihr Gesicht. Sich zu schämen tut höllisch weh. Dabei gibt es gar nichts zum Schämen, höchstens zum Fremdschämen. Herberger hat sie völlig missverstanden. Dass sie und er, dass sie beide … Nein, das will und kann sie sich wirklich nicht vorstellen!
54.
»›Mich wundert, dass ich so fröhlich bin‹«, entfährt es Frau Schick im Gehen. »Wer hat das nochmal geschrieben?«
»Angelus Silesius«, sagt Martha, die gerade neben ihr wandert. Bettina hat sie in der Rolle des Friedensvermittlers zwischen Paolo und den verheirateten Zankhähnen Hildegard und Ernst-Theodor abgelöst, die sich abwechselnd Kilometerzahlen an den Kopf werfen. Sie streiten über die exakte Länge des Jakobsweges.
»Silesius ist ein barocker Mystiker«, fährt Martha in ihrer Erklärung fort. »Seine religiösen Gedichte passen wundervoll zum Jakobsweg. In unserem Chor haben wir einige seiner Texte gesungen. Singen ist wie zwei Mal beten, heißt es.«
»Seltsam, dass ich so etwas kenne. Ich lese nie fromme Gedichte«, wundert sich Frau Schick. »Und singen tu ich sie auch nicht.« Oder nur, wenn sie sie von der Schemutat gelernt hat.
»Silesius wird immer wieder gern zitiert. Johannes Mario Simmel zum Beispiel hat aus der Zeile ›Mich wundert, dass ich so fröhlich bin‹ einen Romantitel gemacht.«
»Und was steht da drin?«
»Bei Simmel?«
»Nein, den kenn ich. Von dem stammt doch auch Liebe ist nur ein Wort , oder?«
»Ja, und Niemand ist eine Insel .«
»Ich nehme an, die Titel sind alle geklaut?«, fragt Frau Schick.
»So würde ich das nicht sagen. Ich mag Simmel sehr.«
»Ich auch, aber was steht denn nun in dem Gedicht von dem barocken Engel Dingenskirchen.«
»Angelus Silesius«, wiederholt Martha geduldig. Darin hat sie schließlich Übung.
Frau Schick nickt. »Den mein ich ja«, sagt sie und erklärt ihren Hang zu Eselsbrücken.
»Eine ausgezeichnete Übung«,
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