Frau Schick räumt auf
behutsam an einer knöcheltiefen und knochenharten Wegfurche vorbei. Allen nächtlichen Schatten zum Trotz sollen ihre Tage bis zum letzten Atemzug dem Leben gehören und der Gegenwart. Das ist sie ihrer Familie schuldig, die samt und sonders vor oder auf dem Treck gen Westen oder auf irgendwelchen Schlachtfeldern im Osten verreckt ist, jawohl verreckt! Das lässt sich nicht anders sagen. Und damit Schluss.
Frau Schick findet es ungehörig, auf einem idyllischen Weg durch Mischwald und hellen Sonnenschein Bilder von Krieg und Flucht heraufzubeschwören. Vorbei ist vorbei. Zumal es den einen und einzigen Menschen, mit dem gemeinsam sie sich an das Erlebte erinnern und es aushalten konnte, nicht mehr gibt.
Thekla.
Frau Schick schwankt und stützt sich schwer auf ihre Stöcke.
Thekla. Ihr Lebensmensch. Der Mensch, der sie im Leben hielt. Achtundsechzig Jahre lang war sie der Grund, aus dem Frau Schick weitergemacht und nie aufgegeben hat.
Herrje! Bei allem, was passiert ist – das muss Thekla doch gewusst haben! Die Liebe mag kommen und gehen, erst recht in einer Ehe, aber so eine Freundschaft, buchstäblich auf der Flucht geboren und ein Leben lang gepflegt und bewahrt … Frau Schick schluckt hart. Zumindest sie hat die Freundschaft gehegt und gepflegt. Sie saugt gierig die Bergluft ein, bis die ihr wie ein Messer in die trockene Kehle schneidet, und schüttelt erbost den Kopf. Sie kann einfach nicht weinen, sie will nicht. Sie hat sich auch nichts vorzuwerfen. Gar nichts. Sie muss auf diesem Weg keine Generalbeichte ablegen oder mittelalterliche Vergebungsportale in berühmten Kirchen durchschreiten. Sie nicht. Thekla – Thekla hätte das angestanden. Darum wollte sie wohl unbedingt mit ihr hierhin, aber jetzt ist sie tot, hat sich einfach davongestohlen. Elende Verräterin!
Neben Frau Schick rauschen die Blätter der Buchen, ein kalter Fallwind flirrt im Eichenlaub, zerzaust Haselnusssträucher, erfasst schließlich auch sie und treibt sie mit einem Stoß voran. Oha, das ist ein bisschen gespenstisch, findet Frau Schick. Sie geht nicht selbst, sondern wird getrieben und muss vor einem kratergroßen Loch stehenbleiben, das eine ausgetrocknete Pfütze im Weg hinterlassen hat. Vielleicht ist der Windstoß ein freundlicher Wink von oben, genauer auf den Weg zu achten.
Ein Wink von Thekla?
Ach was, ach was! Der Wind ist ein Vorbote des Herbstes, der in den Bergen früh beginnt. Man ahnt schon den Geruch von moderndem Laub und ersten Pilzen; letzte Ginsterblüten sitzen prall in ihren Knospen und warten auf ergiebigen Regen.
Frau Schick piekt die Wanderstöcke links und rechts des Kraters in den Weg und bereitet sich darauf vor, die Stolperfalle zu queren. » Ultreia« , murmelt sie. »Vorwärts. Immer voran.« Den Anfeuerungsruf der mittelalterlichen Jakobsbrüder hat Herberger ihr beigebracht. In Wahrheit ist er noch viel länger, und Gott kommt natürlich auch darin vor, hat der Herr Doktor referiert.
Herberger. Endlich ist sie wieder in der Gegenwart und unter den Lebenden. Da fühlt sich Frau Schick wie immer am besten aufgehoben. » Ultreia« , wiederholt sie laut und grimmig.
» Ultreia et suseia« , echot es dicht hinter ihr, und eine Hand fasst sie sacht am Ellbogen. Die unvermeidliche Bettina.
Frau Schick schüttelt die Hand ab. Sie hat keine Lust auf Eiapopeia. Sie strafft den Rücken und nimmt den Pfützenkrater mit einem energischen Schritt. Es knackst ein wenig im Rücken, aber es geht.
»Das war jetzt aber nicht gut für Ihre Hüftgelenke«, mahnt Bettina in ihrem Rücken.
»Die sind aus medizinischem Stahl und weit jünger als ich«, kontert Frau Schick.
»Bitte, lassen Sie sich doch helfen.«
Die soll ihr den Buckel runterrutschen!
»Ich tu das wirklich gern.«
»Verdammt noch mal, Sie machen mich krank mit Ihren Sorgen! Können Sie sich nicht einfach einer fußlahmen Eidechse zuwenden oder einer sterbenden Eiche?« Frau Schick wendet sich kurz um und marschiert dann entschieden weiter.
Bettina bleibt betroffen zurück.
Frau Schick bedauert ihren Ausbruch sofort. Was sie gesagt hat, war gehässig, ist aber doch wahr. Sie mag zwar ebenfalls alles, was kreucht und fleucht, aber diese fürsorgliche Belagerung nicht. Hat sie nie gemocht oder gebraucht. Da sind ihr Herbergers Schleudertricks mit dem Jaguar und seine Vorträge zum Jakobsweg bedeutend lieber. So, und nun wirklich ultreia und voran!
Woher der Herberger immer so viel weiß? Er muss sich auf die Fahrt gründlich vorbereitet
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