Frau Schick räumt auf
Aschenbecher entsorgt. Mit der Bemerkung: »Oliven sind Dickmacher und werden als Delikatesse völlig überschätzt.«
Ihr Mann, der transzendentale Oberstufenlehrer, hat auf ihr stummes Kommando hin unterstützend mit den Augen gerollt. Oder meinte er gar seine Hildegard? Frau Schick fragt sich, wann die beiden damit beginnen, einander zu belehren, wenn kein anderer mehr zuhören mag. Hildegard ist nämlich auch Lehrerin.
Das glückliche Paar, Martha und Hermann, hat zu allem höflich geschwiegen. Vielleicht halten die beiden sich wie Frau Schick gern an Schopenhauer: »Wenn du was zu sagen hast, schweige.«
Das sollte man der beseelten Bettina mal beibiegen. Frau Schick unterdrückt einen Seufzer. Es scheint so, als habe ihre Mitwanderin den Pantheisten-Quatsch schon des Öfteren zum Besten gegeben. Dabei kennt sich die Bande erst seit zwei Tagen. Fehlt nur noch, dass Bettina alle zum Gebet für den Weltfrieden und die Rettung der Wale einlädt. Spätestens dann knallt es.
Der spanische Wanderführer mit dem Jesusgesicht passt perfekt in diesen Club der Bekloppten, resümiert Frau Schick unbarmherzig. Wie ein guter Hirte geht er als Letzter, damit kein Schäfchen abhandenkommt. Es ist schon eine Frechheit, mit so einem geklauten Gesicht herumzulaufen, damit hat er ihr vorhin auf dem Parkplatz einen Mordsschreck eingejagt. Als dieser jugendliche Lockenengel im Halbdunkel des Autofonds über ihr auftauchte, hat Frau Schick einen Moment lang tatsächlich geglaubt, sie wäre gestorben. Ist sie aber nicht, und sie hat es auch nicht vor. Das Leben schuldet ihr noch etwas, sogar eine ganze Menge. Beinahe siebzig Jahre musste sie mit einer Lüge leben – länger als mit Paulchen Schick, dem Hallodri. Aber darüber möchte sie mit niemandem reden, nur mit einer Toten und – falls es ihn gibt – mit Gott. Woran Frau Schick stark zweifelt, die Tote aber fest geglaubt hat.
Nun, sie wird ja sehen, was dran ist an dem Gerede, dass man Ihm auf dem Jakobsweg nahekommen und Sinnfragen stellen kann. Regalkilometer von Büchern und Erleuchtungsliteratur gibt es darüber. Der Doktor Herberger hat sie sicher allesamt gelesen und wäre auf Anfrage schnell mit Kalendersprüchen zur Hand. Der Doktor ist aber nicht da, sondern im Jaguar vorausgefahren zu einem kleinen Landhotel in einem Ort namens Burguete, in dem sie alle übernachten werden.
Hemingway, so hat der unverbesserliche Herberger zum Abschied eingestreut, hat das Landhotel vor achtzig Jahren entdeckt und in seinen Romanen verewigt. Eines Klaviers und einer Bohnensuppe wegen. Mit dieser Information hat er sogar den spanischen Jesus, ihren Wanderführer, überrascht und für sich gewonnen. Scheint der Beginn einer wunderbaren Männerfreundschaft zu sein.
Bohnensuppe! Als ob sie wegen einer Suppe hier wäre. Noch dazu wegen einer mit Bohnen! Die wären ihrem Wohlbefinden weit abträglicher als dieser Weg, denn ihr Darm ist leider nicht mehr so diszipliniert und verlässlich wie ihre Füße.
Frau Schick wirft einen zärtlichen Blick auf ihre Meindl-Schuhe. Tja, ihre Füße funktionieren prächtig und haben nichts vergessen. Sie haben früh gelernt, einen Gewaltmarsch ins Ungewisse zu bewältigen. Einen Marsch ohne Kompass und Landkarte. Drei Monate lang ist sie ab Januar 1945 gelaufen und gelaufen und gelaufen, mit elf Jahren von Ostpreußen bis zum Rhein. Ganz allein auf sich gestellt und hinein in Kölns Trümmerfelder und die letzten Bombenangriffe. Halb verhungert, völlig verlaust, bei eisigem Wind und unter Feindbeschuss, vorbei an steifgefrorenen Toten und Sterbenden, darunter Kinder, unzählige Kinder, die noch weit jünger waren als sie.
»Denn der Mensch ist wie das Vieh, und so wie das Vieh so stirbt auch er.« – Besser als die Bibel kann Frau Schick nicht ausdrücken, was sie damals gesehen und empfunden hat, auch wenn sie von der Heiligen Schrift seither nicht mehr viel hält und nie mehr in ihr gelesen hat. Grauenhaft war es, unbeschreiblich grauenhaft. Noch jetzt suchen die Bilder sie im immer kürzer werdenden Schlaf heim und schleudern sie in einen eiskalten Orbit aus Schmerz und Wut zurück, in dem kein Gott ist und nie einer war.
Ihre frühen Tage auf Gut Pöhlwitz – zarte Sommerpastelle des Glücks – kommen gegen das Grauen nicht an. Der Tod hat zu gründlich gewütet. Frau Schick seufzt und zuckt mit den Schultern. Was soll’s, ihr Schicksal ist eins von Millionen. Sie stößt ihren rechten Wanderstock in die Böschung und hangelt sich
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