Frau Schick räumt auf
haben. Im Gegensatz zu ihr. Der Weg ist für sie nämlich nicht das Ziel. Ein Weg ist dazu da, um ans Ziel zu kommen, so wie das Leben zum Leben und Altwerden da ist. Sie geht nach Santiago, weil Thekla mit ihr dorthin wollte, und Frau Schick möchte das möglichst rasch, ohne Umwege und unnütze Seelenschau hinter sich bringen. Egal, was Herberger oder seine schlauen Bücher empfehlen. Der hat seinen Doktortitel wahrscheinlich in Literatur gemacht – oder am Ende sogar in Theologie? Das jedenfalls würde zu diesem schöngeistigen Bedenkenträger passen. Auch wenn er mitunter einen heißen Reifen fährt, ist der Gute recht empfindsam und zu selten das verwegene Schlitzohr, das ihr auf Anhieb so sympathisch war. So wie vor Jahrzehnten einmal Paulchen Schick. Paul, die Schikane, der sich wie kein zweiter mit der Lucky-Strike- und Nylonstrumpf-Währung auf Kölns Schwarzmarkt auskannte, der den väterlichen Schrotthandel durch Ankauf von zerschossenen Kübelwagen ausbaute, mit dreiundzwanzig sein erstes Trümmergrundstück in Kölns Innenstadt per Handschlag erwarb, es in einen kostenpflichtigen Parkplatz verwandelte und so am Ende die größte Parkhausbaufirma der Republik aufgebaut hat.
Imponierend, auch wenn Pauls Geschäfte nie einwandfrei sauber waren. Alter Rosstäuscher! Aber für das Image und die Nächstenliebe hatte er ja sie, das Flüchtlingskind mit waschechtem Adelstitel, Ahnenreihe und tadellosem Benimm. Ihre Ehe war ein gutes Geschäft. Für die Schick & von Todden GmbH, für alle möglichen karitativen Zwecke und für beide Beteiligten. Wenn Paul nur nicht … Zum Kuckuck mit Paul! Der hat nur am Rande mit ihrem Schmerz zu tun, und einem Hund bringt man nun mal nicht das Schnurren bei.
Frau Schick ist selbst erstaunt, was das bisschen Gehen in ihr auslöst. Mit einer derart ausführlichen Rückreise in ihre Vergangenheit hat sie nicht gerechnet. Eigentlich geht es ihr nur um Thekla und deren Lügengeschichten.
Sie taucht ins Dämmerlicht eines Hohlweges zwischen zwei Felswänden ab, kneift die Augen zusammen und tastet sich mit den Händen an feuchtem, bemoostem Fels entlang. Das ist ein wenig schwierig, weil sie den Boden unter ihren Füßen nicht recht erkennen kann. Verfluchter grüner Star! Flüchtig steigt Angst in ihr hoch. Ein dämlicher Stein reicht, und pardauz ist der Weg für sie vorbei. Dabei muss sie noch einige lebenswichtige Entscheidungen treffen und – nicht zu vergessen – das Testament verfassen. Sie muss . Ein Teil von ihr würde am liebsten kehrtmachen, aber nein, sie wird weitergehen und nachdenken. Das hat sie Thekla nun mal im Krankenhaus versprochen.
»Schwör mir, dass du den Jakobsweg auch ohne mich gehst! Versprich es mir«, hat Thekla verlangt, während sie wie eine Marionette an lauter Schläuchen, Kabeln und Kanülen hing, die ihr letztes Restchen Leben lenkten und überwachten. Grauenhaft, wie ihr Herz gleichsam aus ihrem Körper auf einen Monitor hinausverlagert worden war! Bei jedem Herzschlag piepte das Ding, als müssten Theklas letzte Tage und Stunden sekundengenau abgerechnet werden. »Seit Pauls Tod wollte ich immer mit dir dorthin, Röschen. Wir sollten doch endlich über alles reden.«
Röschen! So wird sie nun niemand mehr nennen. Das Röschen ist mit Thekla gestorben; zurückgeblieben ist die dornige Frau Schick, die alle Stacheln nach außen kehren muss, um nicht an der Wunde zu verbluten, die Thekla ihr auf den letzten Lebensmetern gerissen hat.
»Ach, Röschen. Ich wollte dir noch so viel sagen.«
Wollte, wollte, wollte. Unerträglich dieses Wort!
»Damit warten wir einfach, bis … bis das hier vorbei ist«, hat Frau Schick Thekla unterbrochen und sofort gedacht: Was für ein absurder Satz. Das hier war schließlich Krebs im Endstadium und Tod. Durch die Schläuche tropfte kein Interferon mehr, sondern Morphium in höchster Dosierung.
Thekla hat dennoch gelächelt und den kahlen Kopf sacht angehoben. »Du gibst nie auf, oder?«
»Nicht, bevor mein Dachstübchen morsch wird und zusammenkracht!«
»Versprich, dass du gehst, egal was kommt.«
»Versprochen.«
Was kommen musste, war eigentlich klar. Trotzdem hat Frau Schick noch versucht zu handeln. »Ich mach es nur, wenn du im Gegenzug schwörst, mit mir nach England zu ziehen, sobald ich zurück bin und du aus der Klinik raus bist. Es ist höchste Zeit, dass wir unseren Lebenstraum verwirklichen. Unser Cottage am Meer: Tee trinken und Rosen züchten und Ruhe, endlich Ruhe für den Rest unserer
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