Frau Schick räumt auf
Tage, so wie wir es uns damals ausgemalt haben.«
So wie sie es sich für beide auf der Flucht ausgemalt hat. Thekla war ja viel zu klein, ein winziger Wurm. England, das war Röschens Vorstellung vom Paradies, weil ihre Mutter auf Gut Pöhlwitz so herrliche englische Rosen gezüchtet hat. Gelbe Malmaison überwucherten Hauswände und rote Ziegelmauern. Ihr Duft mischte sich bei sommerlichen Teestunden mit dem Aroma von goldenem Tee, gemähtem Gras und Ingwerkeksen, die die Schemutat mehr grummelnd als begeistert nach den Anweisungen der Mutter buk. Dieses magische Duftgemisch war England. Ja, England musste ein Paradies sein, und davon hat sie dem Baby Thekla, das sie in einem Lumpenschal vor ihrer Brust und direkt am Herzen trug, immer und immer wieder erzählt.
Frau Schick, damals noch Röschen, hat den Säugling aus dem Straßengraben aufgelesen, ihn dem Tod von der eisigen Schüppe geklaut. Sie hat ihm den Namen Thekla gegeben und das Baby auf ihren Armen bis nach Köln getragen und dort als ihre Schwester registrieren lassen. Ganz allein, nicht weil sie eine Heldin war, sondern weil sie ein Kind war, das sich selbst am Leben festhalten musste. Am Ende ihrer Tage war Thekla wieder zu genau solch einem Bündel aus Haut und Knochen
zusammengeschrumpft. Diesmal konnte Frau Schick sie nicht mehr retten. Mit Gevatter Tod kann man nicht zweimal handeln.
Thekla hat das gewusst. » Buen camino , Röschen.«
»Wir sehen uns wieder, ja?«
»Du musst nur ganz fest daran glauben. Und daran, dass ich dich immer lieben werde wie niemanden sonst auf der Welt.«
Frau Schick hat daran geglaubt und tut es noch immer, obwohl es nach allem, was sie inzwischen herausgefunden hat, reichlich viel verlangt ist. Trotzdem will sie halten, was sie Thekla versprochen hat. Darum ist sie hier, darum und um mit den Toten über all das zu reden, was Thekla ihr noch sagen wollte. Über die Wahrheit und die Liebe.
Mit Paulchen ist das weniger dringlich. Er hat nie behauptet, eine treue Seele zu sein. Nein, der nicht, immerhin dabei war er kreuzehrlich. Zuverlässig unzuverlässig gewissermaßen.
Frau Schick lächelt sanft. Windhunde wie ihren verstorbenen Gatten muss man laufen lassen. Die Felswand unter ihrer Hand fühlt sich trockener an, rau, sandig, sonnenwarm. Ein Sonnenstrahl leckt sacht über ihre Hände, blendet ihr in den Augen, die sofort anfangen zu tränen. Dieser Knallkopp von Augenchirurg muss beim Einsetzen der Sickerkissen geschlampt haben! Sie kneift die Augen zu und blinzelt den Tränenfluss weg. Na endlich wieder klare Sicht!
Der Hohlweg weitet sich, das Dunkel wird lichter. Erleichtert umfasst Frau Schick wieder beide Walkingstöcke und arbeitet sich in die gekieste Wegmitte vor. Wie ist sie nur schon wieder auf den ganzen Kladderadatsch gekommen?
Ach ja, Herbergers verwegenes Gesicht ist schuld und die Tatsache, dass sie den Doktor für ein so ausgebufftes Schlitzohr wie ihren Paul gehalten hat. Ist er aber nicht, sonst hätte er sich vorhin nicht so leicht von ihrem Herzinfarkt-Bluff beeindrucken lassen.
Ein wenig regt sich ihr Gewissen, als sie an das bleiche Gesicht des armen Doktors denkt. Als sie nach der kleinen Einlage aus dem Wagen gestiegen ist, hat der Ärmste wie vom Blitz getroffen dagestanden. So als sei sie gerade von den Toten auferstanden. Neben ihr Jesus – ein Bild für die Götter! Gezittert hat der Herberger. Nicht vor Wut, sondern eher aus heller Panik.
Diese Reaktion hält Frau Schick für ein wenig übertrieben. So lange kennen sie sich doch wahrhaftig nicht, und ob sie tot ist oder nicht, kann ihm doch egal sein. Nun, heute Nachmittag darf er sich im Hotel von Burguete ja von ihr ausruhen und auf Hemingways Klavier rumklimpern, so viel er mag. Dabei macht er mit seinem schönen Silberbart und den Pianistenhänden sicher eine blendende Figur. Ja, ihr Chauffeur ist ein Mannsbild, mit dem man angeben kann.
»Da wird sich Herr Herberger aber freuen«, keucht es hinter ihr.
Frau Schick dreht sich irritiert um. »Was?«
»Sie haben es geschafft!« Die beseelte Bettina ist unverhofft und wie aus dem Nichts neben ihr aufgetaucht. Stramme Leistung für ein Pummelchen. »Wir haben unser Etappenziel erreicht.« Bettina weist mit großer Geste in Richtung eines Parkplatzes am Ende des Hohlweges.
»Ach so, ja … übrigens danke auch für … äh … Ihre Bemühungen.« Das muss als Entschuldigung reichen. Frau Schick hat mit diesem Engel der Landstraße einfach keine Geduld.
»Ach, da nicht
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