Frau Schick räumt auf
kann warten, ihr Jakobsweg beginnt sofort. Frau Schick setzt die Füße mit Bedacht. Immer mit der Ruhe und ein Schritt nach dem anderen. Hinter Roncesvalles und nach einem Kultur- und Caféstopp mit der Reisegruppe vom Parkplatz geht es jetzt stetig bergab. Der Camino windet sich durch Mischwald talwärts, die Landschaft wird lieblich und erinnert an ein deutsches Mittelgebirge. Damit nimmt sie es locker auf.
Frau Schicks Tritt wird mit jedem Meter fester. So fest, dass ihre Gebirgsschuhe mühelos die Steinchen zerknirschen, die den Pfad übersäen. Macht Spaß. Sie muss nur dem gröbsten Geröll ausweichen und vertrocknete Furchen meiden, die von sintflutartigen Regengüssen zeugen. Diese Stöcke sind eine großartige Stütze, auch wenn Frau Schicks Gleichgewichtssinn erfreulich ungetrübt ist.
Was sagen Sie nun, Herberger, triumphiert Frau Schick im Stillen. Ich kann’s noch ganz allein.
»Darf ich Ihnen helfen?«
Fast allein. Frau Schick wirft der Wanderin, die sich wie eine Katze von hinten herangepirscht hat, einen strafenden Blick zu. Es ist Bettina, ein strammes Pummelchen Mitte fünfzig, sanftmütig bis zur Penetranz und so farblos, dass es fast in der Waldlandschaft verschwindet. Das könnte allerdings auch an der tarnfarbenen Wanderkluft liegen.
»Zu zweit schaffen wir den Weg leichter«, säuselt Bettina. »Sie müssen sich nur unterhaken.«
»Nein, danke! Ich komme sehr gut zurecht. Wandern liegt mir im Blut.«
Bettina lächelt und passt ihren Schritt dem von Frau Schick an.
Herrje, grummelt Frau Schick, ihre Begleiterin hat nicht nur einen Helfertick, die sucht Anschluss an jemanden, der aussieht, als ob er sich nicht wehren könnte. Hat diese Frau noch nie davon gehört, dass jeder Jakobswanderer sein eigenes Tempo finden muss und darf? Das jedenfalls predigt Herberger ihr seit ihren ersten gemeinsamen Laufübungen am Kölner Rheinufer. Laufübungen? Das klingt, als wäre sie drei und tatsächlich auf eine Hand zum Festhalten angewiesen.
Bettina gehört zur Pilgergruppe, die Frau Schick und ihr Chauffeur dank des vorgetäuschten Herzanfalls auf dem Panoramaparkplatz getroffen haben. Es handelt sich just um die Reisegruppe, die Herberger und sie morgen in Pamplona treffen sollten. Als ein göttliches Wunder lässt Frau Schick das Aufeinandertreffen in der Mitte von Nirgendwo trotzdem nicht durchgehen. Eher als Strafe. Die Gruppe besteht, wie sie befürchtet hat, aus hochbegabten und eher betagten Nervensägen. Bettina ist in Frau Schicks Augen die schrillste.
»Ich helfe Ihnen wirklich gern, Frau Schick. Ich bin gelernte Krankenschwester.«
Auch das noch. Um der beseelten Bettina zu entkommen, muss sie wohl noch unhöflicher werden, als sie vorhin zu Wolfhart Herberger war. Mit einer gespielten Herzattacke ist da nichts zu machen.
Frau Schick verlegt sich auf sehr lautes Schweigen und Marschtempo. Eins, zwei, eins, zwei stößt sie die Stöcke aus Titanstahl in den staubigen Boden. Ihren Vornamen wird sie auf keinen Fall preisgeben, auch wenn es in der Gruppe normal zu sein scheint. Am Ende wird sich noch geduzt. Nichts da! Sie ist und bleibt »Frau Schick«!
Bettina lächelt weiterhin voll heiterer Demut, als sei sie darin geübt, den Missmut der gesamten westlichen Patientenwelt zu schultern. Nach ein-, zweihundert Metern ebener Strecke lässt sie endlich locker und fällt einige Schritte zurück. »Ich bleibe immer in Rufweite!«
Frau Schick ist nicht besonders erbaut davon, denn jetzt hat sie diese unangenehme Person direkt im Rücken. Richtig eingekesselt kommt sie sich vor. Kaum dreißig Meter vor ihr läuft der Rest der Gruppe. Zwei bis zur Ununterscheidbarkeit miteinander verheiratete Paare im Rentenalter, das eine frisch pensioniert und offensichtlich frustriert, das andere anscheinend längst glücklich im Ruhestand. Sie gehen im Quartett. Die frustriert Verheirateten stramm und schwatzhaft, das glückliche Paar versonnen und duldsam lauschend.
Es ist doch immer das Gleiche! Wer zuhören gelernt hat, wird zum Opfer von Leuten, die nichts zu sagen haben, das aber lauthals tun. Frau Schick kennt das von endlosen Empfängen, durch die sie sich – ganz Dame von Adel – tapfer durchgeschwiegen und auf denen sie selbst nur in homöopathischen Dosen geplaudert hat. Stets unverbindlich und vorzugsweise heiter. Bei Anlässen wie diesen hat sie sich immer an Schopenhauer gehalten, den ollen Knasterbart unter Deutschlands großen Philosophen: »Geistreiche Reden oder Einfälle gehören
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