Frau Schick räumt auf
Schillerfalter!
Es juckt sie in den Fingern, seine Flügel zu berühren. Blau war Theklas Lieblingsfarbe, und von der Schemutat hat sie gelernt, dass Schmetterlinge aus dem Reich des Jenseits kommen und ein letzter Gruß sind. Die Schemutat hat an Sommerabenden gern bei einem Brombeerbusch auf einen Falter gewartet und auf das Adjes von ihrem im ersten großen Krieg bei Dünkirchen gefallenen Verlobten.
Jetzt endlich kann also sie selbst Abschied nehmen. Von Thekla. Frau Schick streckt die Hand sacht aus.
Das gewaltige, anhaltende Brunftgeschrei eines Hirschs lässt sie zurückzucken, sie reißt den Kopf hoch. Hat der eine Stimme! Ein Revierkonkurrent hält röhrend dagegen. Eine Aufforderung zum Kampf. Tja, auch das ist Natur.
Frau Schick erhebt sich ächzend. Infernalische Geräusche wie diese könnten einen glatt dazu bewegen, an ungemütliche Waldgeister zu glauben. Aber, nanu, was ist das für ein Geräusch?
Ein schriller weiblicher Hilfeschrei mischt sich ins an- und abschwellende Hirschgebrüll. Das gehört eindeutig nicht zur Natur und bringt Frau Schick ins Wanken. Wer ist denn das? Soll sie selbst nachschauen oder Herberger per Handy um Beistand bitten? Ach was, ach was, sie ist doch keine Memme! Schon gar nicht im Wald.
Ein zweiter, leiserer Schrei dringt an ihr Ohr. Er kommt von links. Sie tastet einen Pfad mit Blicken ab. Heijei, da geht es aber nochmal gründlich bergab, über glitschige Felsstufen und hinein in tiefes Dickicht.
Sie schaut ihre Stöcke auffordernd an. »Na«, murmelt sie, »dann zeigt mal, was ihr könnt.«
16
Nicht zu fassen, einfach nicht zu fassen!
Herberger linst in den Rückspiegel, während er den Jaguar über die Schnellstraße gen Pamplona jagt. Frau Schick besteht auf Höchstgeschwindigkeit. Blaulicht und Martinshorn wären ihr wahrscheinlich auch willkommen, sind aber unnötig. Die Blessuren des neu hinzugekommenen Fahrgasts gehören nicht in die Notfallambulanz. Höchstens das Outfit der Dame. Dame?
Seine Augen streifen die Frau mit dem hell gesträhnten Pagenkopf, der im Stil von Kalle Wirsch oder sonst einem Waldschrat frisiert zu sein scheint. Unter Frau Schicks bestem Wollplaid trägt sie ein feuchtes Kostüm, das die Caritas bei einer Altkleidersammlung für die Putzlappenproduktion aussortieren müsste. Im Rock klafft ein handbreiter Schlitz, und auf ihrer schreckensbleichen Stirn eine Platzwunde. Die hat er mithilfe des Verbandkastens hinreichend desinfiziert. Kein Grund zur Panik, aber Frau Schicks Findelkind scheint das anders zu sehen. Kind? Das ist eine erwachsene Frau!
Ihre verschreckten, von zerlaufener Wimperntusche umrahmten Augen wirken allerdings so groß wie die von Bambi nach dem Verlust der Mutter. Und obwohl dem Bambialter längst entwachsen, muss dieser Zausel mindestens doppelt so naiv sein und das genaue Gegenteil von gewitzt. Sich in Pumps und mit Kosmetikköfferchen in einen Pyrenäenwald locken zu lassen, um unter die Räuber zu fallen! Dazu gehört schon eine gehörige Portion Dummheit. Und das Ganze soll eine Geschäftsreise gewesen sein? Also wirklich! Auf die Geschichte dahinter darf man gespannt sein.
Ach nein, lieber nicht.
Bislang war wenig Sinnvolles aus dieser Nelly Brinkbäumer herauszubekommen, außer ihrem Namen und dass ihr ein Mietwagen, ihr gesamtes Gepäck und ein komischer Vogel von Liebhaber abhandengekommen sind. Aus dem Rest wird man nicht klug. Das kann aber auch an dem Brandy liegen, den er der zunächst verstummten Nelly in einer Bar des Kuhdorfs Orbaizeta verordnet hat. Seither redet sie nur noch wirr. Er hätte den Brandy besser weggelassen. Ein Wunder, dass der nicht mehr passiert ist! Die hätte es glatt schaffen können, sich mit einer vergessenen Bombarde aus Napoleons Tagen in die Luft zu sprengen.
Frau Schick hat den arg gerupften Unglücksvogel nämlich in dem übertunnelten Kanal der alten königlichen Waffenfabrik nördlich von Orbaizeta entdeckt. Eine malerische Ruine, ein Juwel der palastartigen Industriearchitektur des 19. Jahrhunderts, dessen Überbleibsel seit über hundert Jahren von Dickicht überwuchert werden.
Frau Schick hat sich sehr über diese nachträglichen Informationen gefreut. »Eine stillgelegte Waffenfabrik«, hat sie mit verklärtem Blick geseufzt. »Das ist jetzt aber wirklich mal ein Zeichen und Wunder. Erst der Schmetterling und dann das. Das hätte ich Thekla nicht zugetraut! Und ich Dämel suche sie in einer Kirche.«
Wen oder was kann sie damit nur wieder gemeint
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