Frau Schick räumt auf
Sudoku-Rätsel? Herberger zieht die Brauen hoch und konzentriert sich wieder auf die Schnellstraße. Geht ihn ja nichts an.
»WAS MACHT FERDINAND AN DEINEM HANDY UND DU IN SEINEM BETT?«, schreit es aus dem Fond.
Autsch! Will die jetzt ohne Funkverbindung nach Deutschland telefonieren?
Aus dem Handy schreit es – gedämpfter – zurück. Im Rückspiegel sieht Herberger, dass Nelly gleichzeitig mit dem Kopf wackelt, den Mund öffnet und schließt und ihren Bambiblick zur Oscar-Reife bringt. Dann drückt sie die gedämpfte Stimme, der ein leicht flehentlicher Klang beiwohnt, weg. Nellys Bambi-Augen starren ins Nichts. Was kommt als Nächstes? Noch mehr Schluchzer und Klagegeschrei? Nein. Nellys Augen bleiben trocken. Stattdessen beginnt sie zu zittern.
Herberger tippt instinktiv die digital gesteuerte Wagentemperatur nach oben.
Erneut ertönt Mozarts Türkenmarsch. Nelly hört nicht hin. Sanft entwindet Frau Schick ihr das Mobiltelefon, lässt das Wagenfenster hinabgleiten und schleudert das Handy in den vorbeisausenden Grünstreifen. »Ich glaube, das brauchen wir nicht mehr.«
Herberger nickt erleichtert und drückt auf die Playtaste des CD-Spielers. Der erste Satz von Schuberts Fantasie in f-moll perlt in den Innenraum. Sie ist eine der sublimsten Kompositionen für Klavier, vier Hände und gedemütigte Herzen, wie er findet. Er hat sie seinen diversen Damen früher gern zum Abschied auf Schallplatte verehrt. In besonderen Fällen hat er sich sogar selbst ans Klavier gesetzt und mit Emphase, aber bedauerlich falschem Fingersatz etwas von Brahms in die Tasten gedonnert, als zerreiße ihn der Trennungsschmerz. Tja, er war ein ausgesprochen kreativer Don Juan und – mit Verlaub – ein selbstverliebtes Arschloch, das mit einer einzelnen Frau und deren Gefühlen wenig anfangen konnte. Seine Erfolge als Verführer waren dennoch Legion, nachdem er mit seinem ersten Coup in gewissen Kreisen einen Ruf als verflixter Teufelskerl erlangt hatte und ein Spezialauftrag den nächsten jagte. Bis einer schiefging, richtig schief, mörderisch schief. Ärgerlich, dass er jetzt darauf kommt, die Sache ist längst abgeschlossen und nicht mehr zu ändern. Muss an Schubert liegen.
»Bitte«, piepst es von hinten. »Haben Sie nicht auch Der Tod und das Mädchen? Das Streichquartett, nicht das Lied.«
Soll das ein Witz sein? Herberger zieht den Rückspiegel zurate. Nein, diese Nelly meint das ernst. Und sie kennt Schubert.
»Von wegen Tod«, geht Frau Schick dazwischen. »Es gibt doch Ihre Rettung zu feiern. Und das Leben. Wenn Sie mit dem Gesicht nach unten im Wasser liegengeblieben wären, noch dazu halb ohnmächtig …«
»So schlimm war das nicht.«
»Es war schlimm genug. Man kann auch in einer Pfütze ertrinken.«
Diese Nelly auf jeden Fall, stimmt Herberger stumm zu.
Frau Schick sinniert munter weiter über Musik. »Bleiben wir doch einfach bei Mozart! Der belebt immer.«
Nanu, denkt Herberger, den hat Frau Schick ihm bislang noch jedes Mal verboten. Jetzt aber ist seine Chefin voller Enthusiasmus, ihre Wangen glühen, die Augen leuchten hinter den Eulengläsern ihrer Brille.
»Die Jupitersinfonie würde passen.« Sie dirigiert mit krummem Zeigefinger die energisch strammen Eingangstakte, die Tote zum Leben wecken könnten und jedes Konzertnickerchen im Keim ersticken. »Tam, taram, taram!« Summend lässt sie die schmiegsame, biegsame, unendlich wohltuende Streicherfigur folgen. Dann wieder das forsche »Tam, taram, taram«.
»Jupiter habe ich nicht im Angebot«, bedauert Herberger und streift den CD-Sammler neben dem Schaltknüppel.
»Banause! Dann das Credo aus der Krönungsmesse .«
Hält sie ihn für einen Klassik-Discjockey?
»Halt, nein, jetzt habe ich es!«
Herberger lauscht gespannt. Vier Mozart-Sampler hat er zur Auswahl.
»Das Jubilate! Mit diesem unvergleichlich schönen Halleluja . Wir sind schließlich auf dem Jakobsweg«, triumphiert Frau Schick.
Hatte sie im Wald von Irati ein Erweckungserlebnis? Der Gedanke scheint Herberger nicht besonders weit hergeholt zu sein, denn Frau Schick stimmt tatsächlich das Halleluja an. Selbst aus ihrer greisen Kehle sind das Meisterstück und ein ehemals vertretbarer Mädchensopran herauszuhören.
Herbergers Finger lösen sich vom Schalthebel. Er zieht einen Mozart hervor, überfliegt nach einem kurzen Blick auf die freie Fahrbahn das Titelregister. Glück gehabt, das Exsultate, jubilate ist dabei.
Kurz drauf setzen munter die Streicher ein, frohgemute
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