Frau Schick räumt auf
als in der Pose des verzückten Rettungsengels. Ein Engel ist nämlich eine schlechte Begleitung, wenn man einsam, allein und verlassen sein will oder tot oder wenigstens in einer menschenleeren Bar, um sich gründlich zu betrinken.
Stille und leere Bars sind in Pamplona allerdings schwer zu finden. Gibt es hier denn keine Hinterhofkaschemmen für lichtscheue Menschenfeinde? Spelunken, die mit Versagern, Gossengelump und kampfeswilligen Fäusten vollgepackt sind? Nelly schaut sich suchend um und versucht es mit einem handtuchschmalen Stichsträßchen, das feucht nach Fischabfall und Katze riecht. Bonjour tristesse. Das passt.
An ihrem Handgelenk baumelt in einer Plastiktüte Ricardas Kostüm und müffelt ebenfalls so, dass die Verkäuferinnen im Jeansladen den Modekadaver nicht dabehalten wollten. Auch egal, dann trägt sie ihn eben als memento mori und peinliche Erinnerung an ihren Jugend- und Romantikwahn spazieren. Strafe muss sein.
Das tote Sträßchen entpuppt sich als Sammelplatz für Müllcontainer und als Sackgasse. Brandy-Bars sind nicht im Angebot. Dafür läuft man am Ende vor eine Wand. Nelly prallt gegen die hier abgestellten Blecheimer. Es scheppert. Sie flucht. Kriegen die nicht einmal ein winziges bisschen
depressionsfördernden Hinterhof hin? Pamplona ist ja geradezu besessen von Beschaulichkeit, Sauberkeit und Glanz! Beim Einkaufen musste sie vorhin sogar einer Armee von Sprengwagen ausweichen, die Regenbogen aufs Pflaster sprenkelten.
Seufzend begräbt Nelly das ruinierte Kostüm im Abfall, macht kehrt, um wieder ins sonnengetränkte Leben einzutauchen, und bleibt erneut stecken. Verflixte Pumps! Ob sie diese Folterwerkzeuge abstreifen und barfuß weiterlaufen soll?
Nein, nein, nein! Das hätte die junge, naive Nelly gemacht, eine fünfundzwanzig Jahre alte, lebenstrunkene Nelly auf Auslandssemester. Vielleicht auch das alberne Huhn, das vor ein, zwei Monaten noch einmal das Regiment über eine bald doppelt so alte, herzkranke und hirntote Frau übernommen hat. So zumindest urteilt Nellys innere Schuldirektorin. Natürlich ist die auf stumm geschaltet – wie all die anderen Stimmen, die sich in Nellys neurotischem Kramladen versammelt haben, um ein Scherbengericht über ihr Leben zu veranstalten. Seltsam, dass Strafrichterin Ricarda bislang schweigt. Hoffentlich, weil sie sich schämt. Hüpft einfach mit meinem Fellmann ins Bett!
»Deinem Fellmann?«
Ricarda. Na also.
»Du hättest mir längst etwas sagen können«, knurrt Nelly, woraufhin ein Spanier fragend die Brauen hebt.
»Es ist doch erst gestern passiert«, verteidigt sich Ricarda und fügt wie vorhin am Handy hinzu: »Nelly, ich war mir sicher, dass du kein Interesse an ihm hast, sonst hätte ich mich weiter zurückgehalten.«
Kann man das glauben? Nein. Schöne beste Freundin, die keinen Satz über ihre Gefühle herausbringt, aber die der anderen ständig seziert und als pure Einbildung abtut. Nelly presst die Lippen aufeinander und nimmt ihren Weg wieder auf. Sie trippelt und stolpert mitten durch das Menschengewimmel und ein Gassengeflecht, das wie ein Spinnennetz auf Pamplonas Hauptplatz zustrebt, die Plaza de Castillo . Bei einem Wettbewerb für dämliche Gangarten dürfte sie den ersten Platz belegen. Da ist sich Nelly sicher. Dabei hat Pamplona in dieser Hinsicht einiges zu bieten: Unter mit würdevoller Grandezza einherschlendernde Spanier mischen sich Kampftrinker im Torkelgang, Kulturtouristen trippeln als Entenküken ihren Stadtführern nach, und Wallfahrer humpeln auf Blasenpflastern umher. Das müssen Jakobspilger sein, die bereits drei oder vier Etappen des weltberühmten Wanderwegs hinter sich haben. Vielleicht sogar mehr, wenn sie in Frankreich angefangen haben oder an ihrem eigenen Bettpfosten. Die Pilger schlurfen, hinken oder schleichen im Schneckentempo und sehen dennoch seltsam beglückt aus. Möglicherweise, weil sie ein Paradies der köstlichen Gerüche umfängt: warmes Mandelgebäck, würzige Chorizos, frisch frittierter Tintenfisch, ein Hauch von Weihrauch.
Selbst wenn Essen das einzige Ziel der Pilger sein sollte: Sie haben wenigstens eins, noch dazu ein erreichbares. Nelly hingegen hat sich in den letzten Wochen nach jemandem und etwas verzehrt, den oder das es gar nicht gibt. Oder nur für andere. Etwa für Ricarda und Ferdinand.
Egal, auch sie kennt ein Ziel. The next whiskey bar. Auf einmal ist das Lied in ihrem Kopf, und zwar in einer Version von Brechts Alabama-Song , gesungen, geraunt und
Weitere Kostenlose Bücher