Frau Schick räumt auf
Idee, um so schnell wie möglich an Geld und hier herauszukommen? Und aus dem Hotel, das sie zwar bereits bezahlt hat, aber zu schön findet, um es ertragen zu können. Keine Nacht hält sie das aus. Auch wenn ihr Zimmer jetzt »Toledo« und nicht mehr »Alhambra« heißt.
Nellys Blick streift die Wanderstöcke. Wie wäre es, sich einfach als Wallfahrerin auszugeben, eine der kostenfreien Pilgerherbergen auszuprobieren und morgen nochmal bei Ricarda anzurufen? Nein. Erstens ist eine Pilgerin in Pumps und ohne jegliches Gepäck kaum glaubwürdig, und zweitens ist Ricarda mit Fellmanns Rettung beschäftigt.
» Que desea usted, Señora?«
Endlich ein Ober!
» Carlos Primero« , bestellt Nelly knapp und unter Umgehung ihres Sprachtalents. Der drahtige Barkeeper, der mit einem Tablett voller Olivenschälchen und Nüssen aus einem Hinterzimmer aufgetaucht ist, stellt die Knabbereien ab und greift nach einem Brandyschwenker.
Das Glas ist groß genug, um die Füße darin zu baden. Sehr schön. Der Ober füllt es reichlich aus einer kopfüber hängenden Flasche auf. Die Erfindung des Eichstrichs scheint an Pamplona vorbeigegangen zu sein.
»Halten Sie das für eine gute Idee vor dem Abendessen?«, mischt sich Herberger ein und schaut auf seine Armbanduhr. »Frau Schick und die Gruppe müssten in einer halben Stunde im Restaurant nebenan eintreffen. Sie sind doch eingeladen.«
Nelly dreht sich auf dem Hocker so weit wie möglich dem Glas zu und von dem lästigen Herberger weg. »Ich esse nichts«, sagt sie knapp, greift nach dem Brandy und trinkt einen tiefen Schluck. Gott, ist der gut! Carlos brennt milde, aber verlässlich die Nasenschleimhäute und störende Gedanken weg.
»Wie Sie wollen, Frau Brinkbäumer, aber dann sollten Sie sich zu Ihrer eigenen Sicherheit in einen Sessel zurückziehen. Die haben mehr Standfestigkeit«, stört Herberger weiter.
»Sie scheinen sich ja auszukennen.«
»Mit dem Trinken? In der Tat, und das wahrscheinlich weit besser als Sie.«
»Ich weiß, was ich tue. Ich bin achtundvierzig Jahre alt«, zischt Nelly.
»Umso rascher dürfte das Zeug wirken«, kontert er. »In unserem Alter verträgt man nicht mehr viel.«
»Das hoffe ich, das hoffe ich sehr.« In Nellys Stimme schleicht sich unüberhörbar ein Zittern.
»Ein Brandykater hat scharfe Krallen«, warnt Herberger. »Und er kann lebensgefährlich sein.«
»Sie haben ein Talent, sich in Dinge einzumischen, die Sie nichts angehen«, hickst Nelly.
Herberger klemmt sich die Bibel unter den Arm, erhebt sich schweigend aus dem Sessel und schlendert zur Bar.
Oh nein! Warum hat sie diesem Häuptling Silberbart überhaupt geantwortet? Dieser gescheiterte Möchtegerngelehrte hat das anscheinend als Einladung verstanden. Um Herberger keine Gelegenheit zu weiterer Konversation zu geben, bittet sie den Barkeeper in betont elegantem Spanisch um ein wenig musikalische Untermalung.
Der Mann hinter der Theke streift Herberger mit einem kurzen Blick. Der nickt zustimmend und empfiehlt in nicht minder elegantem Spanisch, aber mit baskischen Einsprengseln ein wenig Klassik.
Angeber!
Der Barkeeper kraust zweifelnd die Stirn, kramt eine ramponierte Doppel-CD hervor – »Für Festgesellschaften«, wie er beiden stolz verkündet – und schiebt sie in einen CD-Player. Wenig später entströmt Pachelbels barocker Kanon dem Flaschenwald.
In diskreter Lautstärke beginnen drei Violinen mit verhaltenem Jubel einen Tanz, tupfen schmelzende Tonbilder der Liebe in die Luft, die nach kaltem Tabakqualm riecht. Nelly stöhnt leise. Ausgerechnet Pachelbel! Das ist schlimmer als Zahnschmerzen. Ihr Kopf spult automatisch vor und hört, wie die Instrumente nach erstem zaghaftem Werben von einer beständig wachsenden Leidenschaft und leisen Zweifeln tönen, die sich – als sei es das Gesetz des Geigenhimmels – irgendwann in seliger Harmonie und Wohlgefallen auflösen werden. Nicht umsonst ist Pachelbels Kanon direkt nach Mendelssohn-Bartholdys immer wieder gern georgeltem Marsch aus dem Sommernachtstraum und Wagners Brautchor aus dem Lohengrin die bekannteste Hochzeitsmusik auf Erden. Nun ja, sie wird gelegentlich auch bei Beerdigungen verwendet. Trotzdem ekelhaft, eine Folter, gerade jetzt! Sie will eine schmerzfreie Hinrichtung. Wenigstens das.
»Haben Sie nichts anderes?«, fragt sie auf Spanisch. Ihre Stimme faucht, muss am Brandy liegen.
Der Barkeeper drückt auf Skip, und der Klassik-Sampler springt auf Vivaldis Frühling . Nelly bittet um den
Weitere Kostenlose Bücher