Frau Schick räumt auf
Bauernland, umrahmt von Wildhecken schien es die Zeit und allen Wandel einfach verträumt zu haben. Ein Geschenk für die Augen. Und die Schuhe von Frau Schick sind ein Geschenk für ihre Füße, wenn sie auch inzwischen sehr hübsch eingestaubt sind. Man könnte sie glatt für eine echte, eine ernstzunehmende Pilgerin halten. Leider fehlt der Rucksack, weshalb Nelly zögert zurückzugrüßen, wenn schwer bepackte, waschechte pellegrinos aus aller Herren Länder sie passieren und » Buen camino« oder ihre Zauberformel » Ultreia« rufen.
Sie schüttelt den Kopf und lächelt. Ach, was soll’s! Pilgern darf jeder nach seiner Fasson, auch ohne Gepäck und Schlafsack. Ab sofort grüßt sie zurück.
Am Horizont wartet ein weiteres Dorf. Weiße Häuser leuchten im Schutz einer dunklen Anhöhe auf. Nelly pausiert, um den Postkartenblick in sich aufzunehmen. Paolo überholt sie an der Seite von Herberger. Sie unterhalten sich gedämpft und in einem Dialekt, den Nelly nicht zuordnen kann. Baskisch ist das nicht, dafür versteht sie zu viele Wörter, aber es ist auch keine einfache Variante des kastilischen Spanisch, nein. Es klingt geheimnisvoller, ursprünglicher und so melodiös, dass sie an uralte Volksmusik denkt.
Die Männerstimmen verwehen, als Herberger und Paolo sich entfernen. Dafür schrillt Hildegards Stimme in ihrem Rücken auf. »Das hätte ich nicht gedacht, dass Sie so stramm und geradeaus laufen können! Nach gestern …«
Zur Hölle mit gestern!, denkt Nelly.
»Aber in nagelneuen Schuhen gibt das ganz schnell Blasen«, keucht Hildegard, die Nelly offenbar erreichen will, bevor diese den Weg wieder aufnimmt.
Nelly wendet sich zu ihr um. Zur Abwechslung könnte sie ja mal nett sein, schließlich waren seit gestern eine Menge Menschen nett zu ihr, und das Gehen stimmt sie freundlich. »Ach, in diesen Schuhen und auf so flacher Strecke läuft es sich wie auf Wolken«, sagt sie leichthin. »Wissen Sie, wie das Dorf dort vorne heißt?«
Hildegard reagiert überrascht auf die Frage. Natürlich weiß sie auch die Antwort. »Muruzábal. Von dort aus ist es nicht mehr weit bis Eunate.«
»Muruzábal. Das klingt geheimnisvoll«, befindet Nelly.
»Och, das ist nur ein Kuhdorf!«
Gemeinsam gehen sie weiter. Hildegards Mann Ernst-Theodor bleibt zurück, um das Kuhdorf fotografisch festzuhalten.
»Der knipst seit St.-Jean-Pied-de-Port jeden Stein und Strauch. Am Ende ist noch der Kamerachip voll, bevor wir in Eunate sind, wenn ich nicht aufpasse«, mäkelt Hildegard. »In den Pyrenäen muss er an die tausend Bergziegen festgehalten haben. Zuhause sitzt er dann stundenlang vor seinem Computer und lädt Fotos hoch und stellt sie in irgendwelche Foren ein, als habe die Welt nur auf seine Bilder gewartet. So habe ich mir unsere gemeinsame Zeit ohne Arbeit und ohne unsere Kinder nicht vorgestellt. Wir wollten doch endlich mal ausschließlich für uns da sein. Zum Reisen musste ich ihn ja schon immer zwingen, aber jetzt will er am liebsten nur zuhause versauern und vor sich hin philosophieren. Dem bekommt der Ruhestand nicht.«
Er bekommt anscheinend beiden nicht. Aus Hildegard sprudelt die Verzweiflung eines ganzen Ehelebens heraus.
Nelly schweigt und wiederholt in Gedanken ihr Mantra: »Ich gehe.«
Hildegard freut sich, endlich eine geduldige Zuhörerin gefunden zu haben. Hermann und Martha bleiben nämlich wie Ernst-Theodor ärgerlich oft stehen. Nicht um zu fotografieren, sondern um die Landschaft und die Dörfer, eine Kirche oder eine Blume ganz in sich aufzunehmen, wie sie sagen.
Die schweigsame Martha hat sich vorhin sogar zu einem Morgenstern-Zitat hinreißen lassen: »Wer die Welt nicht von Kinde an gewohnt wäre, müsste über ihr den Verstand verlieren. Das Wunder eines einzigen Baumes würde ihn vernichten.«
Das klang ein wenig überspannt und zugleich müde. Wahrscheinlich sind sie und Hermann einfach schlecht zu Fuß. Vor allem Hermann braucht enorm viel Pausen und guckt oft so, als sei er gar nicht da oder ganz woanders. Das ist auch Hildegard nicht entgangen. »Rüstig würde ich ihn nicht nennen. Wenn mein Ernst-Theodor nicht achtgibt, wird der in ein paar Jahren auch so, aber zum Glück hat er ja mich und nicht so eine überspannte Person wie diese Martha … Es ist wichtig, immer gut zu Fuß zu sein«, befindet Hildegard schließlich laut und energisch. »Sonst lässt der Kopf schnell nach.«
Da kann Nelly zustimmen und nickt.
»Frau Schick scheint sich in dieser Hinsicht allerdings
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