Frauen lügen
hinüber auf die andere Seite der Terrasse. Dort steht eine Frau, die seiner Jugendliebe Susanne zum Verwechseln ähnlich sieht. Alles stimmt. Die blonden Haare, der schlichte Knoten im Nacken. Die knochigen Schultern und die etwas eckigen Bewegungen, die hochgewachsene Frauen manchmal an sich haben und die sie unerwartet rührend wirken lassen – wie frisch geborene Giraffen. Fred ist sich fast sicher, dass sie es ist, auch wenn er weiß, dass sie sich seit dem Ende ihrer Affäre nie wieder auf der Insel hat sehen lassen. Dabei erbte sie nach dem Tod ihrer Eltern zwei lukrative Sylter Hotels, die mittlerweile Millionenerträge abwerfen müssten.
Fred Hübner stutzt, dann holt er sein iPhone aus der Jacketttasche. Eine schnelle Recherche ergibt, dass eines der Hotels eben jene
Friesenperle
ist, die in der vergangenen Nacht Feuer gefangen hat.
Ist Susanne vielleicht deswegen zurückgekehrt?
Ab und an meint Fred sogar, ihre Stimme heraushören zu können aus diesem Rufen und Lachen, Reden und Husten, das die Luft des Kampener Sommerabends erfüllt. Es ist Viertel vor zwölf, und im
Rauchfang
baut sich genau die Stimmung auf, für die das Restaurant weit über die Grenzen Sylts hinaus bekannt ist. Die Terrasse um die Außenbar ist gedrängt voll mit Menschen. Es geht um Sehen und Gesehen werden. Man konsumiert mittelmäßige Drinks zu überteuerten Preisen, dazu gibt es als Ausgleich jede Menge willige Mädchen fast umsonst. Eine Flasche Champagner als Anzahlung, die zweite dann, um den Deal perfekt zu machen und das Mädchen gefügig.
Fred kennt das Spiel genau, er hat es selbst jahrelang gespielt. In den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts, als nicht nur er seine große Zeit hatte, sondern auch die Insel. Alle waren sie hier, in den Sechzigern sogar Ulrike Meinhof mit ihrem Mann. Beide sind gern und oft gekommen, und erst Jahre später begann Ulrike, auf die zu schießen, mit denen sie vorher die Restaurants geteilt hatte. Fred Hübner hat diese Entwicklung nie verstehen können und schoss selbst ausschließlich mit seiner Feder – und das nicht nur in die rechte Ecke. Er verfasste die Chronique scandaleuse jener Zeit und veröffentlichte sie in den maßgeblichen Journalen der Republik. Fred war damals wichtig und einflussreich – und die Mädchen wussten das genau. Wenn andere zwei Flaschen Schampus investieren mussten, kam Fred mit zwei Glas Weißwein zum Ziel. Oft auch ganz ohne Alkohol, nur mit einigen wohlgewählten Worten, dafür aber direkt zwischen den Dünen.
Fast zehn Jahre lang hat er es so getrieben, dann ist Susanne aufgetaucht. Groß, schlank, blond, Hotelbesitzerstochter. Susanne veränderte alles. Vor allem ihn selbst, aber auch seine Sicht auf die Welt. Natürlich hat er damals zu ihr nie davon gesprochen, warum hätte er sich auch ohne Not entblößen sollen?
Vermutlich war das der größte Fehler seines Lebens.
Denn nach einem knappen Jahr reinen Glücks hat Susanne Boysen Fred Hübner überraschend verlassen, um einen Hotelier vom Festland zu heiraten. Fred hat sie seitdem nie wiedergesehen, obwohl ihr Mann, wie Fred sehr genau weiß, eine Villa direkt hinter den Kampener Dünen besitzt.
An die zwei Jahrzehnte nach der Trennung von Susanne erinnert Fred sich nur ungern. Sein Stern sank genau in dem Maß, in dem die Bundesrepublik erwachsen wurde und begann, sich gut zu benehmen, indem sie achtsam, verantwortungsbewusst und langweilig wurde.
Irgendwann war nur noch der Alkohol an Freds Seite, um ihn treu auf allen Stationen seines sozialen Abstiegs zu begleiten – bis hinauf nach List in das baufällige Gartenhaus, das er jahrelang bewohnt hat, und bis hinab in die peinlichste Armut und um ein Haar ins letale Delirium.
Doch dann geschah ein Wunder, ein erstes Wunder, korrigiert sich Fred und gönnt sich noch einen Blick auf die Blonde, deren Anwesenheit er geneigt ist, für das zweite Wunder zu halten. Wenn es tatsächlich Susanne sein sollte, die sich dort mit einigen Herren mittleren Alters unterhält, dann hätte sich seine Jugendliebe in den letzten zwanzig Jahren erstaunlich wenig verändert.
Durch ein winziges Winken mit der Hand bestellt er sich einen weiteren Espresso. Keinen Drink, keinen Wein, noch nicht einmal ein Bier. Nur Kaffee und Wasser stehen noch auf seiner persönlichen Getränkeliste. Seit genau zwanzig Monaten ist Fred Hübner trocken.
Es ist viel Kraft nötig, um dem zu widerstehen, was ihm über zwei Jahrzehnte lang einziger Freund und Begleiter
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