Freddy - Fremde Orte - Blick
war in Japan, in Tôkyô, in Reichweite. Unten im Wohnzimmer gab es ein Telefon. Wenn er herausfand, wo Madoka sich aufhielt, konnte er die Telefonnummer herausfinden und sie anrufen.
In seinem Zimmer kniete er sich erneut über das Mikroskop. In den Lichtreflexen auf Melanies Pupille erschien die Szene, die sie in diesen Augenblicken wahrnahm.
Andô zuckte zusammen. Madoka war zu sehen, und noch eine andere Frau, die er gut kannte. Er hatte Glück! Die Telefonnummer dieser Person kannte er sogar auswendig. Er jagte die Treppe hinunter, stürzte ins Wohnzimmer, schaltete das Licht an (denn mittlerweile war es Abend geworden), nahm den Hörer des Telefons ab und wählte eine Nummer, die er schon viele Jahre lang nicht mehr gewählt hatte.
Während er anrief, sah er sich um.
Irgendetwas im Raum stimmte nicht.
Es gab zu viele Schatten. Und eine seltsame Unruhe herrschte in dem Zimmer. An einer der Wände erschien eine dunkle Gestalt, die sofort wieder verschwand.
Kamen sie jetzt, um ihn zu holen?
„Geh schon ran“, knurrte er. „Los! Geh ans Telefon!“
8
Madokas Mutter war eine knochige, traurig wirkende Frau. Dabei hatte der bekümmerte Ausdruck auf ihrem Gesicht nichts mit der Verzweiflung und Trostlosigkeit zu tun, die sie in den Mienen der Takases gelesen hatten. Diese Frau trug ihren melancholischen Zug gefasst und mit Würde, fast wie ein Schmuckstück. Melanie wusste nicht, wie Madokas Vater aussah, aber ihre Mutter ähnelte ihr sehr. Ihre Augen drückten dieselbe Unnahbarkeit aus.
Sie bewohnte eine kleine, aber penibel aufgeräumte Wohnung in einem hübschen, modernen Appartementhaus. Manshon nannten die Japaner solche Wohnungen, abgeleitet von dem englischen Wort „Mansion“. In den Zimmern gab es nichts Überflüssiges, keinen Nippes und keine Erinnerungsstücke, nur funktionale Möbel und Gebrauchsgegenstände. Trotzdem hing ein Hauch von Luxus in der Luft, ohne dass man sagen konnte, woher er rührte.
Wenn die Mutter erschrocken über das Auftauchen ihrer Tochter war, zeigte sie es nicht. Sie bat die beiden herein, als hätte sie damit gerechnet, dass sie eines Tages auftauchen würde.
„Warum hast du dir die Haare geschnitten?“, lautete die erste Frage der Frau.
„Zur Tarnung“, erklärte Madoka wahrheitsgemäß, und kam damit gleich zum Grund ihres Besuches: „Ich suche Vater.“
Die Mutter nickte ernst. „Es tut mir leid, dabei kann ich dir nicht helfen. Ich habe zwei seiner alten Adressen, aber da ist er nicht mehr. Er muss sehr oft umgezogen sein.“ Auch dieser letzte Satz bekam etwas von ihrer Trauer mit, als sei Vater eine ruhelose Seele, die nicht an einem Ort bleiben konnte.
„Wo würdest du ihn suchen?“, fragte Madoka.
„Nirgends. Ich kann mich nicht mehr in ihn hineinversetzen. Nein, ich glaube, ich konnte es noch nie. Ich würde ihn in einem Tempel ebenso vermuten wie in einer Bar. Er ist mir immer fremd gewesen, und es wäre seltsam, wenn unsere Trennung daran etwas geändert hätte, nicht wahr?“
Melanie, die nichts vom Inhalt des Gesprächs mitbekam, betrachtete die Mimik der beiden fasziniert. Madoka, von der sie den Eindruck gehabt hatte, sie sei in den letzten Stunden aufgeblüht, habe sich ihr und der Welt ein wenig mehr geöffnet, schien wieder in die brütende Stimmung zu verfallen, die man von ihr gewohnt war. Die Auskünfte ihrer Mutter waren wohl nicht besonders erfreulich ausgefallen.
Da es in der Wohnung nichts zu betrachten gab, keine Bilder an den Wänden, keine Blumengestecke, keine spielenden Katzen, empfand sie das zähflüssige Verstreichen der Zeit als unangenehm. Der Dialog zwischen Madoka und ihrer Mutter schlief immer mehr ein, die Pausen zwischen den Sätzen wurden größer. Obwohl sie sich nicht stritten, schien es, als hätten sie sich nichts mehr zu sagen.
„Meine Mutter hat die Vergangenheit abgeschlossen“, erklärte Madoka auf Deutsch, als die Frau kurz das Zimmer verlassen hatte, um Tee zu machen, „und die Zukunft noch nicht geöffnet. Für sie gibt es nur die Gegenwart.“
Melanie versuchte darüber nachzudenken, was das heißen mochte, als das Telefon klingelte. Es befand sich im Flur und dudelte einen Wiener Walzer, der nicht in die Umgebung passte. Sie warteten. Madokas Mutter hantierte weiter in der Küche.
„Geht sie nicht ran?“, erkundigte sich Melanie.
„Vielleicht hat sie keine Lust.“
„Es könnte wichtig sein.“
Madoka erhob sich und schlurfte in die Küche hinaus. Das Telefon klingelte mittlerweile
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