Freddy - Fremde Orte - Blick
er schnell handeln. In ein paar Sekunden würde die Einstellung wechseln, und er würde ihn immer für ihn verloren. Gut, er mochte ihn beim nächsten Durchlauf des Filmes wiedersehen (falls die Sache so funktionierte), aber bis dahin würde Andô selbst vermutlich tot sein, das gleiche Schicksal erlitten haben wie die vier jungen Leute.
Den Namen! , schrie es in ihm. Du musst seinen Namen erfahren – und dann nichts wie raus aus dieser Realität!
Ein nervöses Keuchen kam aus seiner Kehle. Wie fragte man auf Deutsch nach dem Namen? Er kramte ein paar Brocken aus seiner Schulzeit zusammen. Studenten der Medizin und Psychologie hatten damals noch Deutsch lernen müssen, um die deutschen Fachbücher lesen zu können. Aber Fremdsprachen waren nie Andôs Stärke gewesen, und es lag schon zwanzig Jahre zurück, dass er, das Wörterbuch in der Hand, mühsam ein deutsches Buch entziffert hatte.
„Na-Name?“, krächzte er. „Was ... ist ... du ... Name?“
Der Junge sah ihn mit großen Augen an, schien nicht zu begreifen.
Andô brach der Schweiß aus. Die Szene konnte jeden Augenblick zu Ende sein. Wenn die Kamera abgeschaltet wurde, war es vorbei.
„Ich … Fumio“, sagte er hastig und deutete auf sein Gesicht, wie Japaner es taten, wenn sie sich vorstellten.
Der Junge grinste. Er tippte sich gegen die Brust. „Ich … Mar-… tin“, sagte er gedehnt, als müsse er einem Schwachsinnigen etwas beibringen. „Mar-… tin … Clauß …“
Die Szene brach ab, die Umgebung wechselte übergangslos. Sie waren auf dem Weg nach Falkengrund. Dr. Andô murmelte den Namen vor sich hin, den ihm der Junge genannt hatte. Er durfte ihn nicht vergessen, was auch geschah.
Die Szene wechselte erneut, und er sah die Rückseite des Schlosses vor sich. Liebend gerne hätte er sich das Gemäuer von innen betrachtet, aber er musste den Film verlassen, wenn er in seine Realität zurückkehren und leben wollte.
Aufwachen! , dachte er. Ich sitze in einem kleinen Zimmer in Japan. Das hier ist eine Illusion. Das Furchtbare war, dass er genau wusste, dass es keine Illusion war, sondern eine Welt , ein Gefäß , in dem Menschen unter bestimmten Bedingungen existieren konnten. Nichts an dieser Realität hatte etwas mit Schein oder Täuschung zu tun. Also konnte man nicht daraus aufwachen.
Man konnte höchstens fliehen.
Aber wohin?
Um den Film zu verlassen, musste man … sich von dem entfernen, was zu dem Film gehörte.
Was die Kamera aufnahm, hatte Grenzen. Was würde geschehen, wenn man diese Grenzen überschritt, sich auf ein Gebiet begab, welches im Film nicht enthalten war? Über zwei Jahre beschäftigten sie sich mit dem wundersamen Objekt, aber da noch nie jemand zuvor in den Film eingedrungen war, hatten sie sich mit Fragen wie dieser nie auseinandersetzen können.
Andô lief los, an den anderen vorbei. Er wusste genau, aus welcher Perspektive das Schloss abgelichtet worden war. Die Ostseite war nie zu erkennen gewesen. Dorthin war er jetzt unterwegs.
Er rannte an der mit Ornamenten übersäten Gebäuderückseite entlang. Die Ecke kam näher. Er warf noch einen letzten Blick zurück auf die Jugendlichen und stürzte dann in den Schatten des Schlosses, in den Raum hinein, der nie gefilmt worden war.
Vor ihm breitete sich das Nichts aus, eine weiße Fläche wie ein unbeschriebenes Papier. Als er darin eintauchte, geschah nichts weiter Spektakuläres. Er sah einfach sein Zimmer wieder. Dort saß er noch immer auf dem Boden, den Filmstreifen in den Händen. Das Zelluloid fühlte sich feucht und heiß an, als hätte er daran gerieben.
Er streckte seine Beine, die pelzig geworden waren, was ihm bei der Meditation sonst nie passierte. Wie alle Japaner war er es gewohnt, lange auf dem Boden zu sitzen. Heute musste er sich verkrampft haben, wahrscheinlich erst in den letzten Minuten. Er kam auf die Beine, öffnete die Tür, blickte in das enge Treppenhaus. Sein ehemaliger Mitarbeiter war nicht zu Hause – er hatte die ganze Wohnung für sich. Lange zu überlegen, was er jetzt tun sollte, brauchte er nicht. Er musste mit jemandem über das sprechen, was er erlebt hatte. Er wusste jetzt so viel mehr, hatte einen neuen Weg gefunden, mit dem Film in Kontakt zu treten, kannte den Namen des Jungen (eilig kritzelte er ihn auf ein Blatt Papier). Vor allem aber war er am Leben. War aus dem Film herausgesprungen, wie vom Trittbrett eines in eine Schlucht jagenden Zuges.
Es gab nur eine Person, mit der er sprechen konnte.
Madoka.
Sie
Weitere Kostenlose Bücher