Freddy - Fremde Orte - Blick
mochte, dass er seit zwei Tagen fastete und außer Wasser nichts zu sich nahm.
Der Zugang vollzog sich allmählich, in mehreren Schritten. Zuerst waren es Gerüche, die er wahrnahm, den Duft von Gras, Bäumen und Blumen, sommerlich und beruhigend. Und Zigarettenrauch. Sogar dieser war wohlriechend in dieser natürlichen Kulisse, frisch und aromatisch. Als nächstes kamen Farben ohne die dazugehörigen Formen. Stundenlang wurde Andôs Geist von einem Kaleidoskop aus dem Grün der Pflanzen, dem Braun der Erde und dem Blau des Himmels erfüllt. Die farbigen Schlieren kreisten spiralförmig, wie in einer Suppe, die jemand langsam umrührte. Erst viel später bildeten sich Formen heraus, das Grün floss in die Umrisse der Blätter, das leere Meer des Himmels füllte sich mit dem von überallher zusammenfließenden Blau.
Als das Bild komplett war, ließ auch der Ton nicht mehr lange auf sich warten. Raschelnde Blätter und die Stimmen von Menschen. Auch das Fühlen war da – eine leichte Brise auf der Haut.
Auf wessen Haut?
Dr. Andô betrachtete seine Hände, sah an sich herab. Er stand im Gras, über ihm der freie Himmel. Ein kleines Wäldchen breitete sich zu seiner Linken aus. Von dort drangen auch die Stimmen der jungen Leute an sein Ohr. Sie sprachen Deutsch.
Furcht erfasste ihn. Er hatte den Film betreten! Was Takase mit all seiner Technik nicht gelungen war – die meditative Versenkung hatte es ermöglicht. Eigentlich hätte er glücklich darüber sein müssen, denn so etwas Ähnliches hatte er sich gewünscht. Der rasche Erfolg seiner Bemühungen hätte ihn berauschen müssen.
Doch da war ein pechschwarzer Fleck, der seine Freude trübte – sie in Panik umschlagen ließ.
Ein Teil des Films geworden zu sein, bedeutete, in den nächsten elf Minuten das durchmachen zu müssen, was die vier Menschen durchgemacht hatten. Es würde harmlos beginnen: Drei der jungen Leute rauchend im Wald. Dann würde ein kleiner Junge ins Bild rennen, vermutlich ein ungewolltes Ereignis, das später herausgeschnitten werden sollte. Die nächste Szene würde das Team auf dem Weg nach Falkengrund zeigen, danach die interessante Rückwand des Schlosses und schließlich die triste Frontseite. Bis dahin würde es faszinierend sein, dem Film zu folgen.
Doch im Anschluss daran würde es nur noch wenige Sekunden bis zum Ausbruch des Grauens dauern. Würde er, Andô, mit ihnen gemeinsam im Schloss gefangen und ein Opfer des mörderischen Gespenstes werden? Würde er daraufhin ein Sklave dieses verfluchten Films sein, wie die anderen es waren?
Wie kam er wieder heraus?
Zögernd ging er auf die jungen Leute zu. Sie sahen zu ihm herüber. Der Kameramann war nicht zu sehen. Natürlich nicht. Er tauchte noch nicht auf dem Film auf, erst später im Schloss kam er ins Bild – dort hatte er die Kamera auf ein Stativ gestellt.
Von der gegenüberliegenden Seite kam nun ein kleiner Junge angelaufen. Andô hatte ihn schon unzählige Male gesehen. Über diesen Jungen war zwischen Miura, Takase und ihm wenig geredet worden. Sein Auftritt war kurz und unspektakulär. Aber Andô hatte immer wieder über ihn nachgedacht, denn er schien in einer Hinsicht etwas ganz Besonderes zu sein. Außer dem Jungen waren in den ganzen elf Minuten des 45 Meter langen Streifens nur vier Personen zu sehen – wenn man den Geist einmal ausschloss. Alle vier jungen Leute wurden am Ende des Films getötet. Ihre Seelen waren in dem Film gefangen, wie Geister, die nicht sterben konnten.
Aber was war mit diesem Jungen?
Er war ihnen nicht aufs Schloss gefolgt, war also nicht ums Leben gekommen. Er lebte weiter in seiner Welt, gleichzeitig existierte er in der Realität des Films, wenn auch nur für einige Sekunden.
Andô hatte immer wieder über die Möglichkeit nachgedacht, nach dem Jungen zu suchen. Ein Gespräch mit ihm hätte vielleicht helfen können, mehr über den Film zu erfahren. Falls er auch heute noch am Leben war, musste er irgendeine Art von Verbindung zu dem Film haben, und sei es, dass er nachts davon träumte. Ein Teil von ihm befand sich noch dort …
Natürlich war es unmöglich, diese Person zu finden, ohne ihren Namen zu kennen. Wer in den Siebziger Jahren ein kleines Kind gewesen war, musste heute um die 40 Jahre alt sein. Doch das Kind nannte seinen Namen nicht, und eine Suche auf der Basis eines Bildes war unter diesen Umständen aussichtslos.
Dieser Junge war nun keine fünfzehn Meter von ihm entfernt.
Wenn er ihn etwas fragen wollte, musste
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