FreeBook Das Geheimnis von Mikosma - Geblendet
Schalk blitzte. Auch er trug einen schwarzen Mantel. Seine Mütze hatte er unter die Achseln geklemmt und seine rechte Hand spielte mit einer zarten Seifenblase, die er in seinen Fingern drehte. Im Hintergrund des Bildes erkannte Leandra das Schloss, in dem sie sich gerade befand. Wie schön hatte dieses Gebäude einst ausgesehen. Bunte Blumen wucherten aus großen Granittrögen, goldene Pikale drehten ihre Runden über dem Gebäude und das strahlende Weiß der Marmorsteine blendete den Betrachter. Die hohen, langen Fenster waren mit handgemalten Mosaikgläsern geschmückt und auf den vier hohen Türmen flackerten Fahnen, auf denen schwarze Hunde abgebildet waren.
»Das müssen die letzten Schlossbewohner gewesen sein«, dachte Leandra und eine tiefe Traurigkeit überkam sie. »Wie glücklich diese Familie aussieht. Man kann sich gar nicht vorstellen, welches Leid sich hinter diesen Mauern abgespielt hat.«
Sie trat noch einen Schritt näher an das Bild heran und nahm den kleinen Jungen näher unter die Lupe. Sein Gesichtsausdruck verriet, dass er mit keinerlei Sorgen konfrontiert war. Seine Augen waren zu klar und hell, um Böses gesehen zu haben. Sein Lachen wirkte so ungekünstelt und echt.
»Man könnte neidisch auf dich werden«, flüsterte sie dem kleinen Jungen zu, »wenn man nicht wüsste, was dir noch bevorsteht. Du musst also der kleine Horros sein.« Leandra legte den Kopf zur Seite und schloss ihre Betrachtung mit den Worten: »Was ist dir nur passiert, dass du so grau und böse geworden bist!«
Dann ließ sie das Tuch fallen und huschte den Gang entlang, bis sie in ihrer Bewegung verharrte. Etwas auf dem Bild hatte sie gestört. Nur, was war das? Sie schlich zurück und hob abermals den schweren Vorhang zur Seite. Langsam wanderte ihr Blick über das Gemälde und verharrte auf dem Babybauch der zierlichen Frau.
»Wer bist du, Baby?«, flüsterte sie leise und ließ ihre Finger über die Wölbung gleiten. »Wenn du überlebt hast, dann hat Horros ein Geschwisterchen. Aber wo mag es sein?«
In der Geschichte der Buchstaben war von sechs Magiern die Rede, einen siebten hatten sie nicht erwähnt! Traurig dachte sie an die schrecklichen Gefängniskammern und schüttelte energisch ihre Locken. Sie wollte nicht daran denken, was diesem kleinen Wesen zugestoßen sein könnte. Sie zog ihre Hand zurück und machte sich auf, das Zimmer, das am Ende des Flures lag, zu erkunden. Es war das Einzige, was sich im rechten Gang befand. Leise drückte sie die goldene Klinke nach unten und öffnete die weiße, hohe Tür, die auf ihren Blättern einst goldene, feine Verzierungen erahnen ließ. Staunend blickte sich Leandra um, denn sie befand sich im Spiegelsaal des Schlosses. Es war das einzige Zimmer, das noch in seiner vollen Schönheit und Pracht erhalten war. Die Wände schmückten wertvolle Kristallspiegel, die von goldenen Stuckrahmen eingeschlossen waren. Dahinter waren Tapeten befestigt, die mit goldenen Stickereien versehen waren. Liebevolle Blumenornamente schlängelten sich vom Boden zur Stuck verzierten Decke, an der ein gläserner Kristallleuchter baumelte. Auch er war vom Staub befreit worden. Das Tageslicht, das durch die hohen Fenster einfiel, ließ die grün schimmernden Glasperlen in ihrer vollen Farbpracht erstrahlen. Seine Kerzen waren zu Leandras Erstaunen bereits angezündet und die Flammen tanzten geruhsam vor sich hin. Das Mosaikparkett war mit verschiedenen Holzarten, die jeweils in anderen Farben glänzten, quadratisch verlegt und ließ das Zimmer dadurch noch größer wirken. Es war frisch gewischt worden, denn seine Oberfläche verriet eine penible Pflege.
»Es sieht so aus, als ob der Schlossherr Besuch erwartet«, dachte Leandra und suchte nach einem Versteck, das sie benutzen konnte, falls sie überrascht werden würde.
Zu ihrer Enttäuschung musste sie feststellen, dass sich kein Möbelstück in dem Raum befand, außer einem großen, roten Samtsofa, das am anderen Ende des großen Zimmers stand. Bei diesem Anblick erstarrte sie, denn es war genau das Sofa, das sie in ihrer Vision gesehen hatte! Sie stürzte darauf zu und blieb heftig schnaufend davor stehen.
»Jenny!«, rief sie glücklich, packte das dort schlafende Mädchen an den Schultern und rüttelte es wach.
Jenny riss die Augen weit auf. Sie starrte Leandra mit stechenden, angsterfüllten Augen an. Mit einem Ruck wurden die Fensterläden zugeworfen und die Dunkelheit verwandelte das einst so freundliche Zimmer in eine
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